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Tränen sind mehr als Tränen
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Tränen sind mehr als Tränen

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer i. R., Kassel
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Er steht im Zug und weint. Klein ist er, ein wenig dick und etwa zehn Jahre alt. Seine Haare sind kurz, ein Rucksack ist auf seinem Rücken. Und Tränen laufen ihm übers Gesicht. Ganz leise. Ich muss gleich aussteigen, da sehe ich ihn auf dem Weg zur Tür des Wagens. Mitten im Gang des Zuges steht er und weint. Es geht mir ans Herz. Ich biete ihm einen Bonbon an, er will aber nicht. Was ist denn passiert?, frage ich ihn. Er sagt nur: Die andern … mehr kriegt er nicht raus. Es schüttelt ihn ein bisschen beim Luftholen. Dann zeigt er irgendwohin, wo die andern wohl sitzen im Wagen. Der Zug wird langsamer, gleich ist er im Bahnhof. Zum Glück kommt jetzt seine Lehrerin. Sie fragt den Jungen: Viktor, was hast du denn? Viktor hat sich ein wenig beruhigt. Ich höre noch, wie er sagt: Die lassen mich da nicht sitzen. Dann hält der Zug und ich muss gehen. Ich wäre gerne geblieben, hätte noch einen Moment zugehört. Ich lege Viktor meine Hand auf die Schulter und sage: Tschüss. Er schaut mich an, dann dreht er sich zur Lehrerin.

Seine Welt ist zerbrochen. Tränen sind mehr als Tränen. Auch wenn sie klein und leise sind, zeigen sie ja große Gefühle. Immer. Man lässt Viktor nicht da sitzen, wo er gerne sitzen will. Bei den anderen, die schon größer sind als er oder die er gerne mag oder die ihn doch mögen sollen. Die Anderen haben ihn aber nicht gelassen. Vielleicht spielen sie sich nur auf vor einem Kleineren. Oder warten noch auf jemanden. Warum auch immer, Viktor darf nicht sitzen, wo er sitzen will. Und wenn man nicht dazugehören darf, wo man möchte, zerbricht etwas. Ob man Kind ist oder Erwachsener.

Viktor fühlt sich an einem Abgrund. Nur kurz. Und fürchtet, dass alles nicht zu überstehen, was er gerade erleben muss. Das weiß er nicht so richtig, aber er fühlt es genau. Auch wir Großen fühlen so etwas. Das Schlimmste ist ja, sich überflüssig zu fühlen. Es tut weh, da nicht gewollt zu sein, wo man gewollt sein möchte. Ich hätte Viktor gerne umarmt. Er muss doch dazu gehören. Alle sollen zu uns gehören und wir zu ihnen. Vor allem die Kleinen. Gott helfe ihnen dabei. Und uns auch.

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