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Schlüssel zu schlesischen Häusern

Schlüssel zu schlesischen Häusern

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

In der Museumsvitrine des Schlesischen Museums in Görlitz waren Schlüssel ausgestellt: Bündelweise! Schlüssel um Haustüren zu öffnen und Scheunentore zuzusperren. Schlüssel, die leicht in eine Tasche gleiten und Schlüssel, die schwer auf der Hand liegen. Viele von ihnen sind mit kleinen Zetteln versehen, auf denen Ortsname stehen oder Straßennamen. Sie gehörten deutschen Familien, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien geflohen sind oder vertrieben wurden. Hinein gesetzt wurden polnische Familien, zu einem Teil selbst Vertriebene waren.

Dass die Schlüssel im Museum hängen, ist bemerkenswert. Eigentlich war es verboten, diese Schlüssel mitzunehmen. Beim Verlassen sollten die Schlüssel von außen auf die Türen gesteckt werden. Und doch wanderte mancher Schlüssel in die Tasche der ehemaligen Bewohner. Ein kleiner Akt des Widerstandes gegen die Vertreibung – ein Fünkchen Hoffnung auf Rückkehr.

Die Wand im Schlesischen Museum in Görlitz ist ein Schlüssel zum Erzählen für die Vertriebenen und Flüchtlinge: Vom Leben in Schlesien vor dem zweiten Weltkrieg, vom Heimatverlust, vom schweren Start in der Fremde. Beim Erzählen verknüpfen sie die lose hängenden Fäden der eigenen Lebensgeschichte neu. Der Museumsdirektor meint, dass manche dieser inzwischen hochbetagten Menschen ihre Geschichte zum ersten Mal erzählen. Vorsichtig tasten sie sich in der Erinnerung vor. Sie spüren Gefühlen nach und gewinnen verlorene innere Bilder zurück: Das war ich – das bin ich – das werde ich sein!

Das lange Schweigen davor hatte viele stumm gemacht. In der Nachkriegszeit wollte oder durfte niemand ihre Geschichte hören. Tatsächlich war es Schlesiern zu DDR-Zeiten verboten, öffentlich über ihre Vertreibung zu reden. Und im Westen wehrten sich viele gegen die Heimatgefühle der Schlesier. Ja, das gab es natürlich, dass manche Vertriebene sich unversöhnlich zeigten. Aber nicht alle Heimatgefühle sind Revanchismus.

Die Schlüsselsammlung in Görlitz könnte man heute um Tausende von anderen Schlüsseln ergänzen. Sie passen auf Häuser in Syrien, in Afghanistan und Eritrea. Sie könnten Türen öffnen zu anderen Welten und Kulturen. Obwohl es kein Redeverbot gibt, sind auch viele ihrer Besitzer stumm geworden. Im Druck sich einzufügen in die deutsche Gesellschaft, in der Anpassung an das, was im Alltag hier wichtig ist.

Als Seelsorgerin höre ich viele solcher Lebensgeschichten. Manche werden zum ersten Mal erzählt – manche zum hundersten Mal. Ich erlebe, wie Menschen sich selbst in diesen Geschichten vergewissern: Woran ihr Herz hängt, was ihnen Lebenskraft gibt. Menschen mein Ohr für ihre Geschichte zu öffnen, verändert nicht nur sie, sondern auch mich.

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