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Schätze sammeln
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Schätze sammeln

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Ober-Ramstadt

Es war ein ganz normaler Geburtstagsbesuch, den ich als Pfarrerin an diesem Tag vor mir hatte. Aber es wurde eine Sternstunde daraus, weil etwas Unerwartetes passierte. Die Dame, die ihren 80. Geburtstag feierte, besuchte ich zum ersten Mal. Im Wohnzimmer saß eine kleine Geburtstagsgesellschaft bei Sekt und Orangensaft. Kunstvoll dekorierte Häppchen standen auf dem Tisch. Ich habe die Urkunde unserer Kirche überreicht mit einem kleinen Präsent und Segenswünschen für das neue Lebensjahr. Es begannen die üblichen Gespräche. Irgendwann kam die Sprache auf die wunderbaren Bücher, die im Wohnzimmer und im Flur die Regale füllten. Ich bewunderte die Sammlung. „Ja“, sagt die 80-Jährige. „Das sind schöne Bücher. Ich habe sie mein ganzes Leben lang gesammelt. Aber wer soll sich daran freuen, wenn ich mal nicht mehr bin?“ Sie erzählt, dass die Bildbände teuer waren. Sie hat gemeinsam mit ihrem Mann in diese kostbaren Bücher investiert auch schon, als sie noch nicht viel Geld hatten. Kunst, Kultur und Bildung waren ihnen wichtig nach dem Grauen des Zweiten Weltkrieges.
Klein hatten sie damals neu angefangen nach dem Krieg. Nichts wurde weggeworfen. Man wusste ja nie, für was man es noch brauchen konnte. Ein Bildband aus Rom war damals eine Kostbarkeit. Die beiden haben 1958 ihre Hochzeitsreise nach Rom gemacht – das war außergewöhnlich. Die Unterkunft sei bescheiden gewesen, erzählt die 80-Jährige. Es gab nur ein Waschbecken im Zimmer mit kaltem Wasser. Die Kirchen in Rom haben sie schwer beeindruckt. Die Fresken der Geschichten aus der Bibel und die Mosaiken mit dem segnenden Christus waren so schön. Da haben sie am Ende ihrer Reise den teuren Bildband gekauft, in dem all das abgebildet war. So hat es angefangen, erzählt sie.
Sie seufzt: „Und nun will niemand mehr etwas davon haben.“ Ihr Mann ist vor drei Jahren gestorben. Die Kinder haben kein Interesse an den Büchern und auch die Bücherei im Ort will keine Buchspenden mehr haben. Die Enkel hätten nur gesagt: „Oma, wer braucht noch solche Bücher! Das kann man doch heute alles im Internet finden!“ Der Gedanke, dass nach ihrem Tod all die schönen Bücher im Müllcontainer landen, macht sie traurig. Sie wirkt fast ein bisschen verzweifelt, als sie darüber spricht. Hat sie das Falsche gesammelt? Sind die Schätze ihres Lebens nun wertlos?
Es wird eine lebhafte Gesprächsrunde daraus bei diesem 80. Geburtstag. Was sind eigentlich die Schätze des Lebens, die Bestand haben? Was sind die Werte, für die es sich lohnt, etwas zu investieren? Wir haben bei Sekt und Häppchen keine endgültigen Antworten darauf gefunden. Aber wir kamen auf eine Spur, auf der ich bis heute gerne unterwegs bin.

Ein 80. Geburtstag mit Sekt und Häppchen wird zu einer Schatzsuche. Die Jubilarin fragt sich: Was wird einmal aus ihrer Sammlung an wertvollen Kunstbänden und Büchern, die niemand mehr haben will? Was sind überhaupt Schätze im Leben, in die es sich lohnt zu investieren? In dem Gespräch darüber bei dem 80. Geburtstag der Dame kommen wir auf eine Spur, die Jesus seinen Freunden gezeigt hat vor 2000 Jahren. In der sogenannten Bergpredigt hat er etwas gesagt, was vielen in der Geburtstagsrunde irgendwie noch bekannt war. Von Schätzen ist da die Rede, die rosten. In der Geburtstagsrunde sitzt ein alter Mann aus der Nachbarschaft. Er fragt: „Heißt es nicht, wo Motten und Rost sie fressen?“ Die 80-Jährige erhebt sich aus dem Sessel und greift ins Regal. Neben den Bildbänden gibt es da auch ein schlichtes schwarzes Buch mit goldener Schnörkelschrift auf dem Buchrücken. Sie reicht es mir und sagt: „Das müsste doch eigentlich in der Bibel stehen.“ Ich schlage das Buch auf und sehe: Es ist eine alte Traubibel aus dem Jahr 1937. Ich schaue von dem Buch auf in die Augen der 80-Jährigen. „Das ist die Traubibel meiner Eltern“, sagt sie und fügt hinzu: „So etwas kann man doch nicht wegwerfen.“ Das Buch riecht irgendwie geheimnisvoll. Ich blättere darin und finde zwischen den Seiten eine alte getrocknete Blume. Die Blüte muss einmal rot gewesen sein. Irgendjemand hat sie gepresst und aufgehoben als Erinnerung an einen besonderen Moment oder einfach, weil sie oder er die Blume schön fand. Keiner in der Geburtstagsrunde der 80-Jährigen kann auf Anhieb sagen, was das für eine Blume ist. Sie hat dicke gelbe Staubgefäße und filigrane Blütenblätter. Zwei Knospen am Stiel sind erhalten. Eine Blume, die vor Jahrzehnten geblüht hat. Getrocknet, vergessen und dennoch bewahrt in der alten Bibel. Wir lassen die Blüte an ihrem Platz und ich blättere weiter.

Schließlich finde ich in der alten Traubibel die Stelle übers Schätze sammeln, nach der wir gesucht haben. Der Text ist in alter Schrift gedruckt und nicht ganz einfach zu lesen: „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, da sie weder Motten noch Rost fressen und da die Diebe nicht nachgraben noch stehlen. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.“
Einen Augenblick lang ist es still in der vorher lebhaften Gesprächsrunde. Diese Sätze aus der alten Bibel entfalten ihre Wirkung wie der Duft einer Blume. Ich weiß nicht, was den Einzelnen durch den Kopf und durchs Herz ging. Aber wir haben alle gespürt, dass wir da etwas gehört haben, das uns betrifft. Was sammle ich eigentlich Tag für Tag? Die vielen Termine im Kalender, denke ich als erstes. Was sind dabei Schätze im Himmel?
Der alte Mann aus der Nachbarschaft beendet die Stille und fragt mich: „Was sind eigentlich Schätze im Himmel?“ Alle schauen mich gespannt an. Aber ich habe keine fertige Antwort parat. Mich bewegt die Frage genauso wie die anderen. Darum gebe ich die Frage zurück an die Menschen in dieser kleinen Geburtstagsgesellschaft: „Was sind Schätze im Himmel für Sie? Was lohnt sich zu sammeln, das die Zeit überdauert? Schätze, die nichts und niemand gefährden kann?“
Alle denken nach. Und dann sprudeln die Antworten: „Glückliche Momente sind Schätze im Himmel, wenn Menschen sich lieben“, sagt eine Frau um die 50, die Schwiegertochter der 80-Jährigen. Der alte Mann aus der Nachbarschaft meint: „Alles, was nicht materiell ist und doch Freude macht.“ „Ja“, sage ich. „Der Duft einer Blume zum Beispiel.“ Eine Dame, die bisher noch nicht viel gesagt hat, mischt sich ein: „Alles, was mir beim Sterben hilft, sind Schätze im Himmel: Offen sein, neugierig sein, Vertrauen haben.“ Die anderen schauen sie erstaunt an. Dann sagt eine andere: „Dann gehört wohl auch Verzeihen dazu und Loslassen.“ Viele nicken. „Können nicht auch Lieder Schätze im Himmel sein?“, fragt die 80-Jährige. Sie erzählt, wie ihr im Kindergartenalter die Großmutter das Lied von Paul Gerhardt beigebracht hat: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“ Sie zitiert die ersten drei Strophen mühelos. Alle merken, dass ihr diese Worte kostbar sind.
Wir reden noch weiter darüber, was Schätze im Himmel für uns sein könnten. Zwischendurch füllt ein junger Mann, wohl ein Enkel des Geburtstagkindes, die Gläser nach und bringt eine neue Platte mit Häppchen. Eine Sternstunde – dieser 80. Geburtstag.
Von den vielen Bildbänden und Büchern sind wir darauf gekommen, was Schätze im Himmel sind. Aber was macht nun die alte Dame mit ihren wertvollen Kunstbänden und Büchern? Fünf Jahre später habe ich sie wieder zum Geburtstag besucht – und war überrascht.

Eine junge Frau macht mir die Tür auf, als ich der mittlerweile 85-Jährigen zum Geburtstag gratulieren will. Sie führt mich ins Wohnzimmer. Da sitzt die alte Dame, wie vor fünf Jahren in demselben Sessel. Sie ist schmaler geworden, wirkt gebrechlich. Aber ihre Augen strahlen. Sie gibt mir die Hand und sagt: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich sitzen bleibe. Meine Beine machen nicht mehr mit.“ Ich setze mich neben sie. Da sehe ich: Die Bücherregale sind ziemlich leer geworden. Die alte Dame bemerkt, wie ich mich umschaue. Sie lächelt und sagt: „Ja, ich sammle jetzt Freiräume.“ Ein Satz, den ich so noch nie gehört habe.
Die junge Frau mit Namen Irina bringt uns Wasser und Salzgebäck. Und die alte Dame fängt an zu erzählen. Wir haben Zeit. Sie erwartet ihre Geburtstagsgäste erst am Abend. Der alte Mann aus der Nachbarschaft ist inzwischen gestorben. Die Freundin liegt mit einer Grippe im Bett. Und die junge Frau aus der Straße ist schon wieder weggezogen. Sohn und Schwiegertochter können erst am Abend kommen. Und der Enkel ist zum Studieren für ein Jahr im Ausland.
Die alte Dame und ich erinnern uns an ihren 80. Geburtstag vor fünf Jahren und die guten Gespräche damals. „Das ist mir noch lange nachgegangen mit dem Schätze sammeln und dem Rost und den Dieben“, sagt sie. Die Frau von nebenan hat sie danach auf die Idee gebracht mit dem Internet. Die Nachbarin hatte gesagt: „Sachen, die niemand mehr braucht oder haben will, kann man als Sperrmüll auf die Straße stellen – oder ins Internet.“
Die alte Dame erzählt: „Da habe ich zu mir gesagt: Das mache ich! Irgendwann muss ich ja sowieso hier ausziehen. Es soll nicht alles auf den Sperrmüll. Also habe ich meinen Enkel gefragt: Wie geht das mit dem Internet? Er hat es mir gezeigt, und es funktioniert jetzt ganz toll.“ Sie erzählt weiter: „Jeden Tag, wenn es möglich ist, nehme ich mir ein Buch aus dem Regal. Ich schaue es mir noch einmal in Ruhe an, erinnere mich an die Zeiten mit meinem Mann und blättere durch alle Seiten. Danach kommt das Buch in die Truhe da draußen im Flur. Die habe ich leergeräumt und benutze sie jetzt als Schatzkiste.“
Sie erklärt, wie es weitergeht: „Immer wenn mein Enkel vorbeikommt, nimmt er den Inhalt der Schatzkiste mit nach Hause, macht Fotos von den Büchern und stellt sie ins Internet. Darüber haben sich Menschen gefunden, die an dem einen oder anderen Buch Interesse haben. Alles, was niemand mehr will, darf mein Enkel entsorgen.“ Sie fügt hinzu: „Zurzeit ist die Truhe ziemlich voll, weil ja mein Enkel im Ausland studiert. Bei seinem nächsten Besuch wird er ganz schön schleppen müssen.“ Sie lächelt. Sie klingt diesmal gar nicht traurig und kein bisschen verzweifelt. Im Gegenteil. Es scheint ihr Freude zu machen, sich zu verabschieden von ihren Kostbarkeiten. „Und jetzt sammle ich Freiräume“, sagt sie noch einmal und zeigt auf die fast leeren Regale. Nur noch vereinzelt stehen da Bücher und andere Andenken. Die alte Traubibel mit der goldenen Schnörkelschrift auf dem Buchrücken ist noch da. Sie steht neben einem Kerzenleuchter.
Ich bemerke einen Nagel in der Wand gegenüber. Sie erklärt: „Da hing früher die alte Uhr von meinem Großvater. Sie war schon jahrelang kaputt, aber ich konnte mich nicht von ihr trennen. Vor drei Wochen habe ich in der Zeitung ein Inserat von einem Sammler und Uhrmacher gesehen. Der kam und hat die alte Uhr meines Großvaters abgeholt. Ich habe sie ihm geschenkt, und er hat sich riesig gefreut. Jetzt bin ich glücklich. Was soll ich noch mit einer alten kaputten Uhr? Für ihn ist sie ein echter Schatz.“ Sie macht eine Pause und sagt dann: „Aber jetzt ist da der freie Nagel in der Wand. Da würde ich gern ein Kreuz hinhängen. Wissen Sie, wo man so was kaufen kann?“ „Im Internet“, antworte ich spontan, und wir müssen beide lachen.
Mich hat die alte Dame beeindruckt. Sie bleibt im Kopf beweglich. Sie hat gelernt, Dinge loszulassen, auch wenn die ihr kostbar und wichtig waren. Sie sammelt stattdessen Freiräume. Und sie will neu investieren – in ein Kreuz an der Stelle der alten Uhr ihres Großvaters. Sie will vor Augen haben, was bleibt, wenn ihre Zeit auf Erden abgelaufen ist.
Es sind solche Geschichten, die ich inzwischen sammle als Schätze. Geschichten, die mir Mut machen, weil es Geschichten von Menschen sind, die über sich selbst hinauswachsen und dabei segensreiche Erfahrungen machen. Was sind Schätze im Himmel? Die Frage taucht bei mir seitdem immer mal wieder auf. Sie fordert mich heraus. Tag für Tag muss ich entscheiden, was für mich kostbar ist und was ich sammle. Für was nehme ich mir Zeit? Für wen habe ich ein offenes Ohr? Für was setze ich mich ein? Und woran hänge ich mein Herz? Denn Jesus sagt: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“
Schätze im Himmel. Das sind für mich auch die Begegnungen, aus denen ich Anregungen mitnehmen für mein Leben. Ich glaube, solche Begegnungen stammen von Gott. Und ich glaube, sie sind Schätze, die weder Motten noch Rost fressen. Weil ich sie mit anderen teilen kann.

Musikkonzeption: Kantor Jochen Faulhammer

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