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Gott leidet mit

Gott leidet mit

Dr. Peter Kohlgraf
Ein Beitrag von Dr. Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz
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(Musikauswahl zur Sendung: Regionalkantorin Mechthild Bitsch-Molitor, Mainz)

Das wird heute vermutlich der seltsamste und vielleicht auch traurigste Palmsonntag, den ich je erlebt habe. Eigentlich beginnt heute für Christen die wichtigste Woche im ganze Jahr: die Kar- und Ostertage. Heute feiern wir den Einzug Jesu in Jerusalem. In den Gottesdiensten der kommenden Woche gedenken wir des Todes und der Auferstehung Jesu. Normalerweise sind das große, feierliche Gottesdienste mit vielen Mitfeiernden. Dieses Jahr müssen wir darauf verzichten, gemeinsam zu feiern: Die Ansteckungsgefahr ist zu groß. Alles ist in diesem Jahr anders. Die meisten Menschen sind jetzt einfach zuhause.

Die Versuchung hinauszugehen

Ich habe meine zwei Wochen strenge Quarantäne schon hinter mir: Ich war im gleichen Raum mit einem Menschen, der sich mit dem Corona-Virus infiziert hatte. Zwei Wochen musste ich in den eigenen vier Wänden bleiben. Das ging und geht vielen Menschen so, in Europa und auf der ganzen Welt. Weil ich mich gesund fühlte, hat mich immer wieder die Versuchung überkommen: hinauszugehen und die Quarantäne zu missachten. Ich musste mich immer wieder daran erinnern, dass ich Verantwortung trage für die Gesundheit anderer.

Wofür kann ich die Quarantäne nutzen?

Die Corona-Krise trifft uns mitten in der Fastenzeit, der „Österlichen Bußzeit“. Der Theologe Balthasar Fischer hat diese 40-tägige Zeit zur Vorbereitung auf das Osterfest einmal als die „großen Jahresexerzitien des Volkes Gottes“ bezeichnet: eine Zeit der besonderen Einkehr und Suche nach dem Willen Gottes. Ich habe die Zurückgezogenheit in der Quarantäne als intensive, geistliche Tage erlebt. Ich habe religiöse Bücher gelesen, mich mit spirituellen Themen befasst. Dabei hab ich gespürt: Die Themen der Fastenzeit haben für mich eine neue Aktualität bekommen – Gottes- und Nächstenliebe, das Gebet, die Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse anderer, die Konzentration auf das Wesentliche.

Die Ausnahmesituation aushalten

Zugleich galt es auch, Langeweile und Leere auszuhalten. Und nicht nur das: auch Sorgen und Fragen drängten sich auf: Was heißt es, auf Gott zu vertrauen? Ich lese und höre von Menschen, deren Existenz bedroht ist, von Menschen, die in Medizin und Pflege tätig sind und die an die Grenze kommen und trotzdem alles geben. Ich lese und höre von Menschen, deren Zukunft zu zerbrechen droht. Viele Menschen in meinem Umfeld sorgen sich um ihre alten Eltern. Ich erfahre von Krankheit und Sterben. Unzählige Menschen leben in Sorge und Angst, unsere Welt ist in einer Ausnahmesituation.

Immer wieder diese Frage

Und heute, am Palmsonntag, stehen Christinnen und Christen am Beginn einer Woche, in der sie Jesus Christus feiern: seine Hingabe an die anderen, seinen Tod, der für glaubende Menschen einen Sinn und eine Botschaft für die Welt hat, und schließlich seine Auferstehung, neue Hoffnung und eine Zukunft für alle. Gott geht mit der Welt durch alles Dunkel, am Ende steht die Erlösung! Gott erspart weder seinem Sohn noch uns das Leiden. Gott verhindert das Leiden nicht. Nicht das Leiden seines Sohnes und nicht unser Leiden. Warum lässt Gott das Leid zu? Ich verstehe gut, dass diese Frage der schärfste Einwand gegen den christlichen Glauben bleibt. Auch als Bischof habe ich darauf keine zufriedenstellende Antwort. Wie kann ein allmächtiger Gott die Welt lieben und gleichzeitig Leid und Krankheit zulassen? Dennoch gebe ich den Glauben nicht auf, dass wir alle in seinen Händen sind.

Vertrauen als Antwort

Auch die kommenden Tage der Karwoche geben keine einfache Antwort. Jesus gibt keine schön klingende theoretische Antwort. Er gibt sein Leben. Er geht in das Dunkel des Leidens, und ich glaube: Er tut das für mich, für uns alle. Er erlebt selbst, dass er seinen Vater im Himmel nicht mehr spürt, und trotzdem gibt er sein Leben in seine Hände. Der Vater enttäuscht ihn nicht. Am Ende siegt das Leben.

„Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ – Joseph Haydn hat dieses Wort Jesu am Kreuz eindrucksvoll vertont in seinem Oratorium „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“:   

Musik 1: Joseph Haydn (1732-1809): „Vater, in deine Hände“ aus „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“ (CD: Joseph Haydn: Die sieben letzten Worte, Arnold Schoenberg Chor, Concentus musicus Wien, Leitung: Nicolaus Harnoncourt, Teldec Classics).

Sich gegenseitig beistehen im Leid

Gott liebt die Menschen, und dennoch gibt es Leiden und Tod: Gebete aus der christlichen Tradition lassen diese Spannung stehen. Seit meiner Studienzeit bewegt mich ein mittelalterliches Lied: das sogenannte „Stabat Mater“, „Christi Mutter stand mit Schmerzen“ (Gotteslob 532). Dem Lied aus dem 14. Jahrhundert liegt ein Abschnitt aus dem Johannesevangelium zugrunde (Joh 19,25-27). Beim Sterben Jesu am Kreuz, so heißt es im 19. Kapitel des Johannesevangeliums, sind Maria und sein Lieblingsjünger Johannes dabei gewesen. Jesus wendet sich an beide und bringt sie als Mutter und Sohn zusammen. „Frau, siehe, dein Sohn!“, spricht Jesus zu seiner Mutter. Und zu seinem Jünger, den liebte, sagt er „Siehe, deine Mutter!“.

Hören Sie wiederum die Vertonung aus Haydns Oratorium „Die sieben letzten Worte“.

Musik 2:  Joseph Haydn (1732-1809): „Frau, siehe deinen Sohn“ aus „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“ (CD: Joseph Haydn: Die sieben letzten Worte, Arnold Schoenberg Chor, Concentus musicus Wien, Leitung: Nicolaus Harnoncourt, Teldec Classics).

Wie hält Maria das Leiden ihres Sohnes aus?

Das „Stabat Mater“ denkt darüber nach: Was hat wohl die Mutter beim Sterben des Sohnes empfunden? Und es bezieht diese Erfahrungen auf das eigene Leben.

Der Lehrer und Kirchenlieddichter Heinrich Bone hat im Jahr 1847 den lateinischen Text ins Deutsche übertragen:

1) Christi Mutter stand mit Schmerzen
bei dem Kreuz und weint von Herzen,
als ihr lieber Sohn da hing.
Durch die Seele voller Trauer,
schneidend unter Todesschauer
jetzt das Schwert des Leidens ging.

2) Welch ein Schmerz der Auserkorenen,
da sie sah den Eingebornen,
wie er mit dem Tode rang.
Angst und Jammer, Qual und Bangen,
alles Leid hielt sie umfangen,
das nur je ein Herz durchdrang.

Wie furchtbar – das Sterben des eigenen Kindes mitanzusehen

So lauten die beiden ersten Strophen. Für eine Mutter ist das Sterben des eigenen Kindes unvorstellbar schmerzhaft. Es gibt wohl nichts Schlimmeres. So wird auch Maria den gewaltsamen Tod Jesu erlebt haben. Es ist gut, dass der Text menschliches Leid nicht religiös verklärt. In dieser Situation gibt es auch für Maria, die Mutter Jesu, keine Vertröstung auf eine kommende Herrlichkeit. Sie kann dem Leiden nicht entrinnen, wie auch ihr Sohn nicht. Alles Leid hielt sie umfangen, heißt es im Lied. Die dritte Strophe bedenkt dann: Jesus tut dies alles für uns Menschen, aus Liebe und Hingabe für andere. Ob das seiner Mutter Maria unter dem Kreuz bewusst ist: Das lässt das Lied offen.

Zunächst ist da keine Hoffnung

Viele Bilder und Darstellungen zeigen diese Erfahrung Marias: Maria steht unter dem Kreuz, andere Bilder zeigen sie, wie sie den toten Sohn auf dem Schoß hält. Zunächst ist da keine Hoffnung. Und trotzdem machen diese Darstellungen Mariens in Kirchen, auf Friedhöfen, an Gedenkstätten und im eigenen Haus vielen Menschen Mut. Zu einigen solcher Bilder und Darstellungen haben sich Wallfahrten herausgebildet. Menschen ziehen zum Bild der leidenden Mutter. Sie glauben fest daran: Sie begegnen hier einer Heiligen, die das Leid kennt und versteht. In der katholischen Tradition spielt die Fürbitte eine große Rolle. Heilige beten mit und für uns in unseren Anliegen. Sie leben ja in der himmlischen Vollendung, haben Leid und Tod überwunden. Vielen Menschen kommt diese Heiligenverehrung seltsam vor. Anderen hilft dieser Blick auf die Heiligen und auf Maria. Auch mir. Ich schaue auf Maria unter dem Kreuz, und mir wird bewusst: In der Mitte der christlichen Botschaft steht der gekreuzigte Christus, der das Leiden der Menschen trägt, der das Leid kennt und sensibel dafür ist. Gott lässt sich leibhaft vom Leiden berühren. Er trägt es, er weicht ihm nicht aus.

Gott ist an unserer Seite

In den kommenden Tagen ist dieser Glaube für mich besonders wichtig. Ich trage alles Leiden, alle Ängste vor Gott. Als katholischer Christ glaube ich: Maria ist mit uns und betet für uns. In diesen Wochen verlässt Gott uns nicht. Er geht mit den Menschen, er trägt ihr Leid mit, er tröstet und ermutigt uns. Das ist seine Antwort auf meine Frage nach dem Leid. Und das ist Antwort auf die Frage, wie ich als glaubender Mensch dies alles mit seiner Liebe verbinden kann.

Das Gebet von Maria unter dem Kreuz haben viele Komponisten aufgegriffen und in ihrer Musik interpretiert. Hören Sie jetzt einen Ausschnitt aus dem „Stabat mater“ von Domenico Scarlatti: „Juxta crucem tecum stare“ – „Unterm Kreuz mit dir zu stehen“.

Musik 3: Domenico Scarlatti (1685-1757): „Juxta crucem“ aus „Stabat mater (CD: Domenico Scarlatti: Stabat mater, Mainzer Figuralchor, Leitung: Stefan Weiler, Track 17, 2.14).

4) Drücke deines Sohnes Wunden,
wie du selber sie empfunden,
heil‘ge Mutter in mein Herz.
Dass ich weiß was ich verschuldet,
was dein Sohn für mich erduldet,
gib mir teil an deinem Schmerz.

Kein Herz aus Stein

Das sind die Worte der vierten Strophe des Liedes „Christi Mutter stand mit Schmerzen“, der deutschen Übertragung des „Stabat Mater“ von Heinrich Bone. Das Lied bleibt nicht dabei stehen, das Leiden Jesu und Marias zu betrachten. Es bleibt auch nicht dabei stehen, dass ich ihnen meine Sorgen und mein Leben anvertrauen kann und daran glaube: Sie verstehen meinen Schmerz. Vielmehr will ich genauso sensibel werden für das Leiden anderer. Dahinter versteckt sich keine problematische Leidensmystik oder Verklärung des Leidens, die es immer wieder in der Geschichte des Christentums gab, als ob Gott Freude hätte am Leiden des Menschen. Vielmehr betet der Glaubende mit diesem Text um ein sensibles Herz. Ich denke an eine Stelle im Prophetenbuch Ezechiel, wo Gott zu seinem Volk spricht: „Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Ich beseitige das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich gebe meinen Geist in euer Inneres und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Rechtsentscheide achtet und sie erfüllt.“ (Ezechiel 36,26f.)

Sehen, wie wichtig der andere ist

Ich erinnere mich an Diskussionen der letzten Wochen, an Hamsterkäufe und die Sorge mancher Menschen um sich selbst. Ich glaube, viele haben gelernt, wie wichtig ein Herz aus Fleisch ist; wie wichtig es ist, sich um andere Menschen zu kümmern, wie wichtig es ist, vorsichtig zu sein zugunsten des anderen, auch wenn ich mich selbst gesund fühle; sie haben gelernt, dass es nicht dienlich ist, Lebensmittel zu horten, wenn der andere Mensch leer ausgeht. Vielleicht wächst aus einer Krise ein tieferes Bewusstsein für das, was der andere braucht.

Für andere da sein – mit Nachbarschaftshilfe und im Gebet

Das Gebet vor dem Kreuz oder vor der trauernden Madonna hat auch dieses Ziel: auf den anderen zu sehen. Das lernen wir in diesen Tagen, auch in der Kirche: Wir haben noch stärker ein Bewusstsein dafür bekommen, wie wichtig das Gebet füreinander ist. Wir lernen, Gottesdienst zu feiern, auch wenn wir uns nicht in den Kirchen versammeln können; und wir lernen, uns trotzdem dabei miteinander verbunden zu fühlen. Wir überlegen, wie wir jetzt den Menschen am besten beistehen können: mit seelsorglichen Gesprächen im Internet, mit „Telefonbesuchen“ anstelle von Hausbesuchen, mit ganz praktischer Unterstützung beim Einkaufen für ältere Menschen.

Gottesliebe geht nur mit Nächstenliebe

Und weil wir eine weltumspannende Gemeinschaft sind, schauen wir auch auf unsere Mitmenschen in anderen, ärmeren Teilen der Welt, die die gegenwärtige Krise wohl noch viel härter trifft. Gottesliebe ohne Nächstenliebe hat keinen Wert. Das lernen wir in diesen Tagen. Menschen weltweit erfahren sich neu als Schicksalsgemeinschaft. Das war kein leichter Lernweg. Die Krise der letzten Wochen hat uns deutlich gemacht: Jenseits aller nationalen Grenzen, unterschiedlicher Kulturen und Traditionen, Religionen und Bekenntnisse sind wir eine Familie, die nur leben kann, wenn sie nach gemeinsamen Lösungen sucht und nicht die Gegensätze verschärft.

Musik 4: Joseph Haydn: „Fac me cruce custodiri“ aus: “Stabat mater” (CD: Haydn: Stabat mater, Arnold Schoenberg Chor, Concentus musicus Wien, Leitung: Nicolaus Harnoncout).

Am Ende des Liedes von Christi Mutter unter dem Kreuz steht ein österlicher, hoffnungsvoller Ausblick. Sie hörten soeben die Strophe „Fac me cruce custodiri“ – „Mach, dass mich sein Kreuz bewache“ aus dem „Stabat Mater“ von Joseph Haydn.

Die letzte Strophe des Liedes in der Übersetzung von Heinrich Bone lautet:

5) Christus lass bei meinem Sterben
mich mit deiner Mutter erben
Sieg und Preis nach letztem Streit.
Wenn der Leib dann sinkt zur Erde,
gib mir, dass ich teilhaft werde
deiner sel`gen Herrlichkeit.

Zeit nutzen, um das wirklich Wichtige anzugehen

Die Krise der letzten Wochen hat mir neu bewusst gemacht, wie unverfügbar das Leben ist. Vieles hat sich als zweitrangig herausgestellt, was mir sonst so wichtig scheint. Das wirklich Lebensnotwendige lässt sich nicht kaufen. Die Gesundheit und das Leben sind Geschenk, und ich lerne sie neu schätzen. Menschliches Interesse und Sorge anderer sind unbezahlbar. Und ich lerne, dass ich nicht ewig Zeit habe. Es ist gut, das nicht zu vergessen. Vieles kann ich dann nicht auf die lange Bank schieben. Ich muss jetzt beginnen, mein Leben zu ordnen, Dinge anzugehen, Beziehungen zu klären. Ich habe nicht ewig Zeit. Für mich ist dies jedoch kein bedrohlicher Gedanke. Wenn mein Leib in die Erde gesenkt wird, wenn ich einst sterben werde, dann – davon bin ich überzeugt – ist nicht alles vorbei: Ich werde weiterleben und alles Unvollendete in mir wird Vollendung finden.

Sterben, um zu leben

Die Heilige Schrift hat dafür ein schönes Bild. Es heißt im 12. Kapitel des Johannesevangeliums: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“. Das ist die Hoffnung. Maria übergibt schließlich ihren toten Sohn dem Grab, aus dem er auferstehen wird. Am Ostermorgen leuchtet die Sonne der Unsterblichkeit, der Stein ist weggerollt, das Weizenkorn trägt reiche Frucht. Das erhoffe ich auch für mich. Ich bin dankbar für das Bild der Hoffnung, das uns mit der trauernden Mutter unter dem Kreuz vor Augen steht. Alle Wirklichkeit der Welt und meines Lebens hat hier Platz, mit einer großen, unsterblichen Hoffnung. Es ist die Hoffnung: Gott ist mit uns in allem Leiden. Er steht uns bei im Schmerz. Und er ist ein Gott des Trostes und ein Gott des Lebens.

Musik 5: Francis Poulenc (1899-1963): „Quando corpus“ aus „Stabat mater“ (CD: Stabat Mater, Szymanowski / Poulenc, Atlanta Symphony Orchestra & Chorus, Leitung: Robert Shaw).

 

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