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Ertrage einer den anderen
Ioana Sasu/Pixabay

Ertrage einer den anderen

Ute Zöllner
Ein Beitrag von Ute Zöllner, Evangelische Pfarrerin i.R., Pastoralpsychologin, Kassel
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Barbara wartet ungeduldig auf ihren Mann. „Wo bleibt er denn heute nur“, denkt sie sich. „Hoffentlich kommt er gleich. Ich muss ihm unbedingt erzählen, was vorhin zwischen den Kindern passiert ist.“ Barbara kann es noch gar nicht fassen, richtig erschrocken ist sie über ihren älteren Sohn Leon. Leon ist sechs Jahre alt. Noah, sein Bruder, ist drei geworden. Gerade gestern hat die Mutter ein Foto gepostet, auf dem sich die Buben ganz lieb in den Arm nehmen. Und dann das!

Am Nachmittag kommt Barbara am Kinderzimmer vorbei. Sie sieht, wie ihr Großer ganz versunken auf dem Teppich sitzt und spielt. In jeder Hand hat er ein Playmobilmännchen. Plötzlich geht die eine Spielfigur auf die andere los. Das eine Männchen greift das andere an, haut ihm auf den Kopf und Leon kreischt: „Noah soll tot sein. Noah soll tot sein!“ Vor lauter Schreck ruft seine Mutter, nun auch viel zu laut: „Leon, hör sofort auf damit. Lass das sein.“ Sie stürzt ins Zimmer hinein. Wortlos nimmt sie Leon das Spielzeug weg. Worauf der Sechsjährige erst recht losbrüllt. Es dauert bis die beiden sich wieder beruhigen.

Innerlich bleibt Barbara aber aufgewühlt. „Wie kommt Leon dazu, so etwas zu sagen?“, fragt sie sich. Den Vorfall muss sie mit ihrem Mann besprechen.

Am Abend reden die Eltern miteinander. Der Vater hört sich die Geschichte seiner Söhne an. Er meint dazu recht abgeklärt: „Wir sind eben nicht nur friedfertige Menschen. In der Phantasie lebt der Junge seine ärgerlichen Gefühle aus. Das ist heftig, wenn er sich seinen Bruder tot wünscht. Im Spiel verarbeitet Leon aber, dass Noah ihn manchmal heftig stört.“

„Klar“, meint Barbara nach einiger Zeit. „Einer ertrage den anderen in Liebe. Das versteht sich nicht von selber. Schon in biblischen Zeiten haben Menschen darum gerungen, einander zu ertragen. Das ist bis heute so. Mit sich selber war sie auch nicht zufrieden. Wäre es nicht besser gewesen, ruhiger auf das Kind zuzugehen? Um dann mit Leon zu spielen und zu sprechen?“

Barbara setzt sich nun mit ihrem eigenen Verhalten auseinander. Was ist mit mir passiert, fragt sie sich. Ich konnte Leon in seiner Wut nicht ertragen. Deswegen habe ich ihm die Figuren sofort aus der Hand genommen.“

Toleranz hat Grenzen, ohne Zweifel. Spätestens dann, wenn es darum geht, den anderen körperlich zu verletzen, ist eine Grenze erreicht. Das gilt auch für Worte, die beschämen und verletzen. Einer ertrage den anderen in Liebe. Aber ihr Ältester brauchte das Spiel. Es hat ihn entlastet.
Da nimmt ihr Mann sie in den Arm und meint: „Morgen bist du gelassener. Du nimmst die Kinder in den Arm. Was meinst du, wie die sich dann freuen - und du selber auch.“

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