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Ausgebremst: Luther auf der Wartburg
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Ausgebremst: Luther auf der Wartburg

Claudia Rudolff
Ein Beitrag von Claudia Rudolff, Rundfunkpfarrerin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel

Ausgebremst zu werden ist für jeden schwer. Schon auf der Autobahn, wenn ich es eilig habe, ist es nervig, wenn ein Laster die linke Spur blockiert.
Oder schwungvoll möchte ich ein neues Projekt auf den Weg bringen und die Kollegen lehnen ab, was ich gerne möchte.

Ausgebremst zu werden ist bitter. Das erfährt auch Martin Luther 1521. Zunächst entwickelt sich alles gut für den Reformator und sein Anliegen: Seine Schriften mit seiner Kritik an der damaligen Kirche sind im Volk beliebt, die Zahl seiner Anhänger wächst.
Dem Kaiser und seinen Räten ist das ein Dorn im Auge. Sie wollen keine Unruhe. Weder in der Kirche noch im Staat. Deshalb soll Martin Luther nach Worms auf den Reichstag kommen und vor dem Kaiser und seine Räten seine Schriften widerrufen. Z.B soll er seine Aussage zurücknehmen, dass der Papst und die kirchliche Hierarchie die letzte Instanz in Glaubensfragen sind. Doch Luther hält dagegen: „Konzilien und auch der Papst können irren.“ Für Luther kommt die oberste Autorität allein der Heiligen Schrift, der Bibel zu.
Am Dienstag, den 2. April 1521, macht sich Luther auf den Weg nach Worms.
Auf dem Reichstag wird er gefragt: „Bist du bereit, deine Schriften zu widerrufen?“
Luther antwortet: „Wenn mir jemand mit der Bibel und mit Vernunftgründen beweist, dass ich geirrt habe, bin ich bereit, meine Bücher zu widerrufen und sie sogar zu verbrennen.“
Vollmundige Worte! Er ist sich seiner Sache sicher. Und tatsächlich: Keiner zeigt ihm eine Bibelstelle, aus der deutlich wird, dass der Papst in Aussagen über den Glauben und in Lehrfragen unfehlbar ist. Auch der Ablasshandel lässt sich durch die Worte der Bibel nicht rechtfertigen. Niemand kann sich durch Geld von seinen Sünden freikaufen. Deshalb widerruft Luther nicht. Der Kaiser kann das nicht akzeptieren, da damit die Einheit im Glauben in seinem Reich gefährdet ist. Das bringt Unruhe.
Für die Rückreise von Worms nach Wittenberg  wird Luther noch sicheres Geleit zusichert. Dennoch weiß der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, ein Verehrer Luthers, dass der Reformator in höchster Gefahr schwebt. Seine Weigerung zu widerrufen, wird Konsequenzen nach sich ziehen.

 Musik 1  Josquin Desprez/de Fuenllana, Postrero Kyrie

Luther ist sich dieser Gefahr nicht bewusst. Er reist gestärkt am 26. April 1521 aus Worms ab. Er ist sich und seiner Überzeugung treu geblieben. Jetzt geht es heim nach Wittenberg. Doch am 4. Mai  wird er im Thüringer Wald überfallen. Ich stelle mir vor, welche Angst er hat und wie verzweifelt er ist. Gerade noch hat er dem Kaiser und seinen Räten Widerstand geleistet und getrotzt. Vielleicht davon geträumt, dass er in Wittenberg für seine Standhaftigkeit gefeiert wird. Und nun scheint sein letztes Stündlein geschlagen zu haben.
Er weiß nicht, dass dieser Überfall inszeniert ist. Der Kurfürst von Sachsen, Friedrich der Weise, hat diesen Überfall organisiert. Er lässt Luther auf die Wartburg bringen. Dort ist er sicher. Hier erst erfährt Luther, wer hinter seiner Entführung steckt.
Am 26. Mai 1521 verhängt der Kaiser die Reichsacht über Luther. Das bedeutet: Niemand darf ihn beherbergen, ihm zu trinken oder zu essen geben. Wer ihn findet, soll ihn gefangen nehmen und dem Kaiser ausliefern. Seine Bücher dürfen nicht mehr gedruckt werden. Allmählich begreift Luther, in welcher Gefahr er schwebt.
Zu seinem Schutz ist nur der Hauptmann der Wartburg eingeweiht. Als einziger dort weiß er, was es mit diesem Mönch Martinus auf sich hat. Die anderen Bediensteten wissen nicht, wer nun dort leben wird.
Um nicht erkannt zu werden, muss Luther sein Äußeres verändern. So lange darf er seine Kammer nicht verlassen.
Das macht ihm auch zu schaffen. Er lässt das Haar und einen Bart wachsen. Er muss ein Schwert an der Seite tragen und führt nun das Leben eines Rittermannes. Der Mönch Martin Luther wird zum Junker Jörg. Mit dem neuen Namen erhält er eine neue Identität. Luther muss alles aufgeben, was ihm lieb und teuer ist.

Er ist ausgebremst - im wahrsten Sinne des Wortes. Zwar zum eigenen Schutz! Aber nicht freiwillig! Er ist weit weg von seinem Kloster, von seinen Büchern, von seinen Aufgaben als Theologieprofessor in Wittenberg. Weg von seinen Unterstützern und Freunden. Er kann nicht predigen, darf nichts veröffentlichen. Was wird nun aus seinen Erkenntnissen? Bleibt jetzt in der Kirche alles beim Alten?

Als er endlich wie ein Ritter aussieht, geht er in den Wald  und reitet in die Nachbarorte. Trifft er unterwegs Mönche oder Priester, verwickelt er sie gern in ein Gespräch über kirchliche Fragen oder die “Sache mit Luther“, über die viele Leute sprechen. Aber seine Begleiter versuchen ihn schleunigst wieder loszureißen, damit die Tarnung nicht auffliegt.
Er wird köstlich bewirtet auf der Wartburg, aber er verträgt die Umstellung von der sparsamen Mönchskost auf das schwere Essen der Ritter nicht. Auch nach einem Arztbesuch in Erfurt fühlt der junge Reformator sich weiterhin matt und kraftlos. Körperlich und seelisch geht es ihm nicht gut.

In seinen Wartburgbriefen klagt Luther mehrfach: „Wie müßig ist es, zum Nichtstun verbannt zu sein“.
Es belastet ihn, dass er nicht weiter an der Reformation arbeiten kann und natürlich auch, dass er sich als Deserteur empfindet. Seine Mitstreiter in Wittenberg halten den Kopf hin, und er sitzt hier in Sicherheit auf der Wartburg. Was denken die Menschen, die er für die Reformation begeistert hat? Sie müssen doch maßlos enttäuscht sein, dass er einfach von der Bildfläche verschwunden ist. Wie soll es nun weitergehen? Die Geschichte von dem Überfall ist in ganz Deutschland Gesprächsthema. Der Maler Albrecht Dürer in Nürnberg  fragt in seinem Tagebuch „Lebt er noch oder haben sie ihn gemordet?“ 

Musik 2  Josquin Desprez, De profundis clamavi

Ausgebremst - so fühlte sich Martin Luther, der zu seinem Schutz auf der Wartburg festsaß. Ich kann nachvollziehen, wie verzweifelt Luther war.
Ausgebremst werden Menschen auch heute. Natürlich werden sie nicht überfallen und auf einer Burg versteckt. Aber manchmal werden sie auch regelrecht aus dem Verkehr gezogen. So wie Conrad. Er arbeitet rund um die Uhr in seinem Job als Rechtsanwalt. Auch außerhalb seiner Kanzlei ist er per Handy für seine Klienten erreichbar. Ihm macht sein Beruf Freude, dennoch wünscht er sich oft nichts anderes, als einfach mal Zeit zu haben. Ein Tag ohne Pläne und Termine wäre schön, nicht wie ferngesteuert, dem klassischen Tagesablauf mit seinen vielen Verpflichtungen, zu folgen. Doch er macht immer so weiter. Dann passiert es. Abends Schmerzen im linken Arm, beklemmende Gefühle im Brustkorb. Schnell ruft seine Frau den Notarzt. Diagnose: Herzinfarkt. Der Arzt verordnet ihm eine Auszeit - keine Mails, keine Anrufe - einfach abschalten.

Ausgebremst und das gleich für einen längeren Zeitraum. Obwohl Conrad sich Zeit ohne Termine gewünscht hat, macht es ihn nun unglücklich: Er macht sich Sorgen: Wie läuft die Kanzlei ohne ihn weiter? Außerdem kann er nicht annehmen, dass seine Kräfte begrenzt sind. Und er fragt sich plötzlich:

Warum werde ich ausgebremst? Wie komme ich aus der Krise wieder raus?

Vielleicht hilft dabei ein Zitat von Max Frisch. Er sagt: „Eine unfreiwillige Veränderung kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“

So hat es auch Martin Luther erlebt. Zunächst zweifelt er an sich, hadert mit Gott. Aber dann kommt die Wende. Nicht plötzlich, aber sie kommt. Seine körperlichen Beschwerden lassen nach. Er hat neue Kraft und  seine produktivste Schaffensperiode! „Ich schreibe ohne Unterlass“, jubelt er in einem Brief an seinen Freund Spalatin.
Seine Freunde drängen ihn zu einer eigenen Bibelübersetzung.
Schon bevor Luther das Alte und das Neue Testament übersetzt, gibt es Bibelausgaben in Mittelhochdeutsch. Allerdings beruhen diese Übersetzungen eben auf der lateinischen Version, der sogenannten Vulgata, also nicht auf dem Urtext. Sie sind Übersetzungen einer Übersetzung. Ihre Bearbeiter haben außerdem Wort für Wort übersetzt, was ziemlich holprig klingt. Das Deutsch der Übersetzungen vor Luther ist altertümlich und schwer verständlich. Luther dagegen nimmt sich das hebräische und griechische Original vor. Glücklicherweise hat sich in Luthers Reisegepäck zum Reichstag nach Worms ein hebräisches Altes Testament und ein griechisches Neues Testament befunden. In der Zeit auf der Wartburg ab 1521 beginnt Luther nun, zunächst das Neue und dann das Alte Testament aus den ursprünglichen Sprachen ins Deutsche zu übertragen. Und: Luther schreibt  in einem Deutsch, welches das Volk verstehen konnte.
Er sagt: „Man muss [...] die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markte [...] fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen, so verstehen sie es dann und merken, dass man Teutsch zu ihnen redet.
(Martin Luther, zitiert nach: Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Freiburg 1878 - 1894, Bd. 7, S. 548)

Er braucht nur 11 Wochen für die Übersetzung des Neuen Testamentes ins Deutsche. Das gilt bis heute als Meisterleistung.
Im September 1522 erscheint das Neue Testament in Luthers Übersetzung. Es wird  in 3000 Exemplaren gedruckt und kostet eineinhalb Gulden. Das ist damals viel Geld. Trotzdem ist die Auflage in nur drei Monaten ausverkauft. Luther übersetzt weiter und schließlich ist auch das Alte Testament fertig. 1534 erscheint die erste komplette Lutherbibel. Seine Bibelübersetzung verbreitet sich über den ganzen deutschen Sprachraum. Die Lutherbibel prägt das, was wir heute Hochdeutsch nennen.  

Musik 3  Johann Walter, Allein auf Gottes Wort

Ich denke nochmal an Max Frisch: „Eine unfreiwillige Veränderung kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
 Als Luther auf der Wartburg fest sitzt, kann er offenbar irgendwann den inneren Schritt tun. Er akzeptiert, dass er zu seinem Besten eine Zeit lang aus dem Verkehr gezogen ist. Irgendwann wächst in ihm die Kraft, sich mit den neuen Umständen zu arrangieren und produktiv etwas daraus zu machen. Ich stelle mir vor: Auch sein Vertrauen in Gott stabilisiert ihn innerlich, um die Zeit zu nutzen. Er findet einen Weg, den Menschen anders zu dienen, als Reden zu halten oder theologische Diskussionen zu führen. Er übersetzt stattdessen die Bibel ins Deutsche.

Das war ein innerer Prozess, der sicher einige Zeit gebraucht hat. Vielleicht hat Luther auch erst im Nachhinein erkannt, dass diese unfreiwillige Auszeit einen Sinn ergab. Ich denke an einen Satz, den der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom schreibt: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“ (Römer8, 28). Es ist nicht leicht, zu einer solchen Gewissheit zu finden, wenn man plötzlich aus dem gewohnten Leben herausgeworfen ist. Oft braucht es Zeit, manchmal auch Gespräche mit anderen und Gespräche mit Gott im Gebet, bis man die neue Situation annehmen kann und sie neu, produktiv nutzt. Erst von dem Moment an, wo ich vertraue, dass ein Sinn  in dieser Auszeit liegt. Oder wenn ich spüre, Gott lässt mich auch jetzt nicht allein. Solche Erfahrungen helfen mir, die Situation anzunehmen und einen neuen Weg einzuschlagen. Luther nimmt der Zeit auf der Wartburg den Beigeschmack der Katastrophe, weil er Gott vertraut. Vielleicht sind es diese Worte des Apostel Paulus, die ihn stärken:

Wir wissen aber, dass denen die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen (Römer8, 28). Wer diese Worte mitspricht  drückt die Zuversicht aus: Es gibt keine verlorenen Zeiten. Auch schwierige Zeiten können sich einfügen und gehören dazu. Alle Lebenszeit liegt in Gottes Hand. 

Musik 4 Josquin Desprez, In te Domine speravi

Luther, ausgebremst auf der Wartburg, hat die Bibel übersetzt. Natürlich bringt nicht jede Auszeit so eine Meisterleistung hervor. Aber es verändert was. Conrad, der leidenschaftliche Macher hat es auch geschafft. Er kann der unfreiwilligen Veränderung den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.

Seine Krankheit ist für ihn wie ein Schuss vor den Bug, der ihn zur Besinnung bringt. Klar, erkennt er das nicht von heute auf morgen. Conrad hadert oft, fragt, warum passiert das gerade mir? Er lernt langsam, seine Zeit nicht nur mit Arbeit zu verbringen. Er erlaubt sich, nicht nur an seine Kanzlei und seine Klienten zu denken, sondern auch an sich: „Was wolltest du immer schon mal tun?“
Er fängt an zu schwimmen und zu laufen. Achtet mehr auf sich.
Nimmt sich Zeit, um mit seinen Kindern etwas zu unternehmen. Allmählich geht es ihm wieder gut. Conrad freut sich darauf, in seine Kanzlei zurückzukehren. Er möchte nie etwas anderes als Anwalt sein. Aber er wird seine Arbeit verändern. Nicht mehr immer erreichbar sein, weil er erfahren hat: Ohne Auszeiten, ohne Freiraum bin ich bald für immer ausgebremst.

Conrad geht zwar nicht oft zur Kirche, aber er glaubt an Gott. Er meint:  „Mit einigem Abstand betrachtet, kann ich sagen: Ich glaube, mit meiner Krankheit wollte Gott einen Plan mit mir verwirklichen, mir zeigen, worauf es ankommt - meinen Beruf zu lieben, aber alle meine Beziehungen und mich nicht von ihm beherrschen zu lassen.“
Der Apostel Paulus schreibt: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“ An dieses Pauluswort hoffe ich mich zu erinnern, wenn ich ausgebremst werde. Hoffe, dass es mich vertrauen lässt und die unfreiwillige Veränderung annehmen hilft oder zumindest aushalten, bis Licht am Horizont erscheint.

„Ausgebremst zu werden“ muss keine Katastrophe sein.

Es kann ein produktiver Zustand werden. Manche Auszeit ist wie ein Sprungbrett. Man hat die Zeit und die Muße, sich mit sich und seinem Leben auseinanderzusetzen, und kann entweder in ein verändertes, neues Leben springen oder einfach eine Zeit fernab vom Arbeitsalltag mitnehmen. Und danach wieder frisch und voller Energie an das „alte Leben“ anknüpfen.

Alles kann sein, nichts muss!

Übrigens: Luther ist auch in sein altes Leben zurückgekehrt, als die Zeit dafür reif war: Weil seine Anhänger sich immer mehr radikalisieren, Kirchen und Klöster plündern und Aufruhr predigen, verlässt er ein Jahr später die Burg und wird von Wittenberg aus zum obersten Seelsorger der neuen Glaubensbewegung.
Die Wartburg hat Luther nie wiedergesehen.

 

Musik 5  Heinrich Schütz, Verleih uns Frieden, 2'10''

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