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Wahlverwandtschaft

Wahlverwandtschaft

Ein Beitrag von Janine Knoop-Bauer, Evangelische Pfarrerin, Darmstadt

Wenn Jesus zu den Menschen spricht, versammeln sich schnell viele um ihn. Dann gibt es fast kein Durchkommen mehr. Selbst seine Mutter und seine Geschwister schaffen es nicht, zu ihm zu gelangen. Sie rufen nach ihm: „Jesus, wir sind hier! Wir wollen zu Dir. Sag den Leuten, dass sie uns Platz machen sollen.“ Doch Jesus reagiert anders, als sie es sich erhoffen. Er zeigt ringsum auf die Menschen und ruft seiner Familie zu: „Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister. Meine Freunde sind meine Familie.“ So erzählt es der Evangelist Matthäus in der Bibel.

Ich habe dagegen gelernt: Blut ist dicker als Wasser. Als Kind hab ich das oft gehört. Meinen Eltern war es wichtig uns beizubringen: die Familie kommt an erster Stelle – egal was passiert. Und wenn ich einmal vor die Wahl gestellt wäre, so sollte ich immer wissen: die Familie hat Vorrang. Und es ist wirklich so: Obwohl ich oft umgezogen bin und meine Familie mittlerweile weit verstreut lebt: Wir wissen, wenn wir uns brauchen, dann können wir aufeinander zählen

Im Radio läuft aktuell passend dazu ein Lied des schwedischen Musiker Avicii. Es heißt „Hey brother“ und es geht darum, wie Familienmitglieder zusammenhalten. Auch dieser Satz kommt vor: The water’s sweet but blood is thicker. Das Wasser ist süß, aber das Blut ist dicker. Doch der Satz stimmt für mich heute trotzdem nicht mehr. Und ich bringe ihn meinen Kindern nicht bei.

Denn ich weiß, ohne meine Freunde und Freundinnen wäre mein Leben unvollständig. Und in meinem Alltag wäre ich ohne ihre Unterstützung oft aufgeschmissen. Gerade weil meine Familie so weit verstreut lebt. Für mein alltägliches Leben zählen die Menschen in meiner Nähe sehr viel. Ihnen gegenüber empfinde ich Verbindlichkeit. Sie unterscheidet sich nicht von dem Zusammenhalt in meiner Familie. Und manchmal ist das Verständnis füreinander auch leichter. Denn mit vielen Freunden teile ich die Lebenssituation. Sie sind ähnlich alt und haben ähnliche Probleme. Wenn ich Hilfe brauche, ist es gut, dass ich gar nicht so viel erklären muss. Und andersherum gilt das Gleiche. So habe ich den Kreis der Familie erweitert um meine Wahlverwandtschaft. Menschen, die mir nahe sind und für die ich mich verantwortlich fühle, obwohl wir nicht blutsverwandt sind.

So verstehe ich, was Jesus meint, wenn er seine Freundinnen und Freunde als seine Familie bezeichnet und er keinen Unterschied macht zwischen diesen und seiner Mutter und den Geschwistern. Familie entsteht, wo Menschen sich annehmen und Verantwortung für einander übernehmen. Mir gefällt, wenn sich die Menschen in der christlichen Gemeinde als Schwestern und Brüder bezeichnen. Sie bringen damit zum Ausdruck: Sie wollen füreinander da sein. Sie fühlen sich verwandt – jenseits aller Blutsbande.

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