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Worte zum Leben
Bild: Werner Weisser/Pixabay

Worte zum Leben

Andrea Wöllenstein
Ein Beitrag von Andrea Wöllenstein, Evangelische Pfarrerin i. R., Marburg
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Was für eine Geschichte!

Fast jeden Nachmittag kommt die alte Frau am Garten vorbei. Zuerst nicken sie sich nur von weitem freundlich zu. Irgendwann bleibt sie stehen und schaut der Bäuerin bei der Arbeit zu. „Mögen Sie eine probieren?“ fragt die und reicht eine Salatgurke über den Zaun, die sie gerade geerntet hatte. „Frischer geht’s nicht!“

Seitdem wechseln sie immer ein paar Worte am Gartenzaun. Über das Wetter, dass man wieder gießen muss, damit überhaupt etwas aufgeht. Über die Maulwürfe, die mitten im Salatbeet ihre Hügel aufgeworfen haben. Die alte Frau kommt nun regelmäßig, um bei der Bäuerin einzukaufen. Ein paar Tomaten, eine Hand voll Radieschen. Möhren und Lauch für die Suppe. Ein Schälchen Erdbeeren zum Nachtisch. „Sie sind der erste Mensch, mit dem ich heute rede“, sagte sie häufig. Wenn sie von weitem ankommt, sieht sie oft bedrückt und müde aus. Nach dem kleinen Schwätzchen am Zaun geht sie meistens viel fröhlicher weiter.

Die alte Frau braucht mehr als Gemüse. Das hat die Bäuerin längst gemerkt. So fängt sie an, zum Gemüse eine Karte zu legen mit einem guten Wort. Auf dem Abreißkalender vom letzten Jahr sind viele schöne Sprüche. Die hebt sie auf. Nun werden sie sorgfältig ausgeschnitten und auf Karten geklebt. Lebensweisheiten, Bibelsprüche, Gedichtzeilen. Was ihr gerade passend scheint zur Jahreszeit und zu den Gesprächen der letzten Woche.

Das Gemüse hat sie mit Appetit gegessen, die Sprüche hat sie in einem kleinen Kästchen aufgehoben. Und wenn sie sich allein fühlt und wenn traurige Gedanken kommen, dann holt sie ihr Kästchen, liest die Sprüche und erinnert sich daran. Bei manchem weiß sie noch: Das lag bei den Erdbeeren. Das war im Herbst, als die Kartoffeln reif waren. Hier gehörte der dicke Kohlkopf dazu an dem sie eine Woche lang gegessen hat…
Ein paar Jahre später hat sie das Kästchen mit den guten Worten ihrer Nichte geschenkt. Sie soll sich daran erfreuen, und dann die Worte weitergeben, damit die Freude sich ausbreiten kann.

So ist eine dieser Karten und ihre Geschichte auch zu mir gekommen. Ein Gedicht von Heinrich Heine steht darauf:

„Herz, mein Herz, sei nicht beklommen 
und ertrage dein Geschick.
Neuer Frühling gibt zurück
was der Winter dir genommen.
Und wie viel ist dir geblieben!
Und wie schön ist noch die Welt! 
Und, mein Herz, was dir gefällt – 
alles, alles darfst du lieben!“


Genau das Richtige für einen Frühlingstag wie heute. Trotz der Angst vor Corona.
Oder genau deswegen. Weil es meinen Mut und meine Lebenskraft stärkt.

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