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Vom Fremd- und Spätschämen
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Vom Fremd- und Spätschämen

Andrea Seeger
Ein Beitrag von Andrea Seeger, Evangelische Theologin


Manche Menschen sagen oder tun etwas, was man persönlich als peinlich empfindet. Umgangssprachlich schämt man sich dann fremd, stellvertretend sozusagen. Seit 2009 ist der Begriff Fremdschämen im Duden zu finden. Anders als der Begriff Spätschämen. Der bräuchte auch einen Platz im Wörterbuch. Damit sind all die Worte und Taten gemeint, die man sich in früheren Jahren geleistet hat und die einem im fortgeschrittenen Alter leidtun. Ich hatte zum Beispiel mal eine ältere Kollegin, die verreiste oft aus beruflichen Gründen. Wenn sie übernachten musste, buchte sie stets zwei Einzelzimmer. Eines für sich und eines für ihre Teddys. „Die Bären“, so hat sie uns erklärt, „müssen ihre Ruhe haben. Wenn ich spät abends ins Hotel komme, schlafen sie schon.“ Wir jüngeren Kolleginnen und Kollegen haben Witze darüber gemacht, haben lauthals gelacht – hinter ihrem Rücken. Schlimmer noch. Niemand nahm sie mehr ernst.

Wir haben uns lustig gemacht, aber nie gefragt, warum sie ihre Teddybären so umsorgt. Kürzlich sprach ich mit einem Freund darüber. Der gab mir einen Spruch des griechischen Philosophen Platon mit auf den Weg: „Sei gütig, denn alle Menschen, denen du begegnest, kämpfen einen schweren Kampf.“ Als ich darüber nachdachte im Zusammenhang mit der Kollegin, habe ich mich geschämt, spätgeschämt. Denn mir fiel plötzlich ein, dass sie mal erzählt hat, wie gerne sie mit ihrem Mann Kinder gehabt hätte. Aber es sollte nicht sein. Das war vielleicht ihr Kampf. Eigene Kinder konnte sie nicht pflegen und umhegen. Da blieben nur die Teddys.

Und mir bleiben die Fragen nicht erspart: Wo habe ich sonst noch Menschen nicht gut behandelt? Wem habe ich Unrecht getan? Wenn ich darüber nachdenke, verfalle ich unweigerlich ins Spätschämen. Die Teddy-Kollegin würde ich gerne anrufen, sie fragen, was sie von dem unpassenden Verhalten mitbekommen hat und sie um Entschuldigung bitten. Leider ist sie gestorben. Diese Chance ist verpasst. Umso mehr nehme ich mir vor, anderen rechtzeitig zu sagen, was mir leidtut. Damit es fürs Spätschämen beim nächsten Mal nicht zu spät ist.

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