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"Erntedank"
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"Erntedank"

Winfried Engel
Ein Beitrag von Winfried Engel, Katholischer Ltd. Schulamtsdirektor i. K. i. R., Fulda
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Es war bei einer Veranstaltung im Kollegenkreis. Ich hatte die Aufgabe, an die Kolleginnen und Kollegen einige Worte zu richten. Nachdem ich geendet hatte, stand ein älterer Kollege auf, ging wortlos auf mich zu, griff in seine Jackentasche und überreichte mir eine Postkarte. Danach ging er ebenso wortlos auf seinen Platz zurück. Etwas verdutzt betrachtete ich das unerwartete Geschenk und blickte auf eine orange leuchtende Sonne mit einem freundlich lächelnden Gesicht, umgeben von blauen Strahlen. Darunter stand in großen Buchstaben: Danke schön. Ich sah mich nach meinem Kollegen um, er lächelte und nickte mir freundlich zu.  Ich habe mich damals über diese Geste sehr gefreut. Hier hat jemand etwas getan, was im täglichen Leben viel zu kurz kommt, obwohl es eigentlich wichtig ist: Er hat sich bedankt. Nicht ein automatisch dahingesagtes "Danke" als Antwort in einem routinemäßigen Wortwechsel, sondern ein Dank, bei dem ich das Gefühl hatte, hier bist du gemeint, ganz bewusst. Und die lächelnde Sonne auf der Karte deutet an, was dieses Wort "Danke" alles bewirken kann: es bringt Licht, Wärme, es lässt wachsen und gedeihen. Licht auch in die Trostlosigkeit eines grauen Alltags, Wärme in die Kälte erstarrter zwischenmenschlicher Beziehungen. Ein "Dankeschön" zur rechten Zeit, im richtigen Augenblick kann eine Atmosphäre wachsen lassen, in der es Spaß macht, zu leben und zu arbeiten, kann helfen, dass ein gutes Klima erhalten bleibt. Die Gelegenheit, danke zu sagen, ergibt sich im Laufe eines Tages immer wieder. Das beginnt am Morgen zu Hause in der Familie und setzt sich fort am Arbeitsplatz oder wo immer ich mit anderen Menschen zusammentreffe. Sollte ich nicht den Menschen um mich herum, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Geschäften, wo ich einkaufe, und anderen, die auf unterschiedliche Weise für mich da sind, immer mal ein "danke" sagen? Auch wenn sie – wie man so sagt – nur ihre Pflicht tun? Ich habe den Eindruck, dass viel zu viel geklagt und kritisiert und zu selten gedankt wird. Letzteres meist auch nur dann, wenn ich unerwartet Hilfe bekomme und dann spüre, was es bedeutet, Menschen um mich zu haben, die für mich da sind und mir beistehen. Muss das so sein?

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Menschen sind es gewohnt, Gegebenes als selbstverständlich hinzunehmen. Darin sehe ich auch nichts Negatives. Niemand kann dauernd mit einem Gefühl der Dankbarkeit umherlaufen oder gar noch ständig fragen, wem er denn dieses oder jenes zu verdanken hat. Wichtig ist die Grundhaltung mit der ich durchs Leben gehe. Bin ich mir bewusst, dass vieles gar nicht in meiner Hand liegt, dass ich Entwicklungen ausgesetzt bin, die ich nicht steuern kann? Ich denke hier zuerst an meine Gesundheit. Natürlich kann ich etwas tun, dass sie mir erhalten bleibt. Eine Garantie dafür gibt mir jedoch niemand. Das wird uns gerade in diesen Zeiten der Corona-Pandemie immer wieder bewusst. Wie schnell sich gerade bezüglich der Gesundheit etwas ändern kann, hat wahrscheinlich schon jeder in seiner unmittelbaren Umgebung erfahren. Ich kenne Menschen, die mussten wegen einer schweren Krankheit von heute auf morgen ihren Arbeitsplatz aufgeben. Nach einer schweren Operation konnten sie nicht mehr so leben wie vorher. Und wie viele mussten in den letzten Monaten hinnehmen, dass sie wegen des Verdachts einer Infektion mit dem Corona-Virus in Quarantäne mussten. Ich denke aber auch an die Arbeitsplätze. Auch das gehört zu den Erfahrungen der letzten Monate, dass sie durch den Lockdown in Gefahr gerieten, dass es nicht selbstverständlich ist, einen sicheren Arbeitsplatz zu haben. Ich denke schließlich an die Natur, die Welt, in der ich lebe. Immer wieder erreichen uns Katastrophenmeldungen aus verschiedenen Teilen unserer Erde. Riesige Brände, Stürme und Überschwemmungen hinterlassen Spuren der Verwüstung, bringen Menschen in wenigen Augenblicken um ihr Hab und Gut. Wir können froh sein, dass wir nicht in einer der besonders gefährdeten Regionen dieser Erde leben müssen. Richtig, niemand kann sich aussuchen, wo er geboren wird. Dennoch ist die Tatsache, hier leben zu dürfen, auch keine Selbstverständlichkeit.

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Am heutigen Sonntag begeht die katholische Kirche das Erntedankfest, einen offiziellen Dank-Tag sozusagen. Die evangelischen Christen feiern es in der Regel am ersten Sonntag nach Michaelis, also am Sonntag nach dem 29. September. In diesem Jahr fällt der Erntedanktag für beide Kirchen auf denselben Tag. Längst ist das Erntedankfest ein Tag, an dem es nicht nur um die Gaben der Natur geht, sondern um vieles andere mehr, um alles, das ich letztlich nicht selbst schaffen kann. Nun ist es in der Tat eine Frage meiner Weltanschauung, wie ich mit dieser Tatsache umgehe. Für die einen ist es einfach so, mal haben wir Glück, mal haben wir Pech. Der Zufall ist verantwortlich. Für andere gibt es einen Gott, der diese Welt geschaffen und dem Menschen geschenkt hat. Die Welt als Schöpfung Gottes sehen, das kann aber nicht ohne Konsequenzen bleiben. Das gibt jedem Geschöpf einen besonderen Wert, es gibt dem Menschen eine besondere Würde. Es stellt mich in die Verantwortung für alles, was mir in dieser Schöpfung anvertraut ist. Gleichzeitig darf ich mich aber auch als Beschenkter sehen, im Wissen, dass es einen Gott gibt, der für mich sorgt. Schon das Volk Israel und später die Christen haben die Welt so gesehen. Sie haben auf vielfältige Art und Weise Gott Dank gesagt für die "Schöpfung", dafür, dass er der Urgrund allen Seins ist und hinter allem steht. Sie haben zugleich darauf vertraut, dass dieser Gott sie niemals im Stich lässt, dass er sich um sie sorgt. So verstanden, ist alles um mich herum ein Geschenk. Das darf ich mir am Erntedankfest wieder einmal bewusst machen. Und ich darf fragen, ob nicht Dankbarkeit die Lebenshaltung sein müsste, die mich begleitet, die Grundeinstellung, die mein Verhalten prägt.

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Dankbarkeit hat viele Autoren angeregt, dazu etwas zu schreiben. Auch Lothar Zenetti hat das getan. "Am Ende die Rechnung", so überschreibt er einen seiner Texte zu diesem Thema. Und er fährt fort: "Einmal wird uns bestimmt die Rechnung präsentiert für den Sonnenschein und das Rauschen der Blätter, die sanften Maiglöckchen und die dunklen Tannen, für den Schnee und den Wind, den Vogelflug und das Gras und die Schmetterlinge, für die Luft, die wir geatmet haben, und den Blick auf die Sterne und für alle die Tage, die Abende und die Nächte.  Einmal wird es Zeit, dass wir aufbrechen und bezahlen. Bitte die Rechnung. Doch wir haben sie ohne den Wirt gemacht: Ich habe euch eingeladen, sagt der und lacht, soweit die Erde reicht: Es war mir ein Vergnügen."[1] Wie würde sie wohl aussehen, diese Rechnung, dachte ich, während ich den Text zum ersten Mal las. Und dann die überraschende Wendung am Schluss! Die Rechnung ohne den Wirt machen, diese Redensart ist weit verbreitet. Eine solche Rechnung kann für mich gut oder auch schlecht aussehen, das lässt die Redensart offen. Doch der "Wirt", von dem Lothar Zenetti spricht, meint es gut mit mir. Deshalb möchte ich gerade heute an ihn erinnern, an Gott, den Schöpfer aller Dinge, die uns geschenkt sind. Ihm schulde ich keine Bezahlung, allenfalls Dankbarkeit. Dankbarkeit für all` die vielen Schönheiten und Annehmlichkeiten, die die Welt uns jahraus jahrein bietet. Doch "was ist vergesslicher als Dankbarkeit?" heißt es in Schillers Drama "Don Carlos". Diese Tatsache wird im alltäglichen Leben leider immer wieder bestätigt. Ich möchte ein anderes Sprichwort dagegensetzen: "Dankbarkeit kostet nichts und tut Gott und Menschen wohl." Wie wahr dieses Sprichwort ist, kann jeder leicht nachvollziehen. Dank erfahren tut einfach gut und danken macht keine Mühe. Man könnte damit beginnen, dem Wort "Danke" mehr Raum im Alltag zu geben. Grund dazu gibt es genug. Mein Kollege hatte seinen Dank an mich noch mit dem Bild der Sonne verbunden. Eine gute Wahl wie ich meine, denn eine einfachere Art Licht und Wärme zu spenden, kann ich mir nicht vorstellen!

[1] aus: Hug, Barbara und Hans, Blätter, die uns durch das Jahr begleiten, Stuttgart (Kreuz) 31993, 1.10.

 

 

 

 

 

 

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