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Advent und Apokalypse

Advent und Apokalypse

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

Alle Jahre wieder ist die Advents- und Weihnachtszeit für viele Menschen eine lieb gewordene Tradition, die auf geheimnisvolle Weise ein bisschen in die eigene Kindheit zurückführt. Alles ist vertraut: Die vielen Lichter in der frühen Dunkelheit, die Lieder und Melodien, die besonderen Gerüche, die Erwartung des Heiligen Abends und die wunderbare Weihnachtsbotschaft vom Frieden auf Erden.

Für andere Menschen hat der Glanz dieser Wochen schon lange seine alte Kraft verloren. Denn allzu oft haben sie erlebt, wie die freudige Spannung der Advents- und Weihnachtszeit nach den Feiertagen jäh zu Ende war. Die Lichter verloschen, der Winter gewann wieder die Herrschaft über die Tage und Krieg und Terror in vielen Teilen der Welt gingen einfach weiter.

Es wird vermutlich auch in diesem Jahr wieder so sein. Aber hat dann die Advents-Zeit mit ihrer Botschaft vom kommenden Frieden auf Erden eigentlich eine mehr als sentimentale Bedeutung? Macht es Sinn, auch in diesem Jahr wieder die alte Hoffnung aufrecht zu erhalten, dass am Ende aller Tage doch Frieden auf Erden sein wird – entgegen allem Augenschein?

Wie viele Menschen befinde auch ich mich in der Advents- und Vorweihnachtszeit irgendwie dazwischen: Zwischen der Hoffnung auf Veränderung des weltweiten Elends und der Resignation aus Erfahrung. Wird das Morden je ein Ende haben? Wird es jemals Frieden auf Erden geben? Oder werden die Mächte des Hasses und der Zerstörung bis ans Ende aller Tage die Oberhand behalten?

Solche Fragen begleiten die Christen seit den Anfängen ihrer Geschichte. Auf den letzten Seiten der Bibel gibt es dazu bildgewaltige, rätselhafte und für uns heute schwer verständliche Antwort-Versuche. Deshalb lade ich Sie heute Morgen zu einer weiten Gedanken-Reise in die Vergangenheit ein. Bitte folgen Sie mir über 2.000 Kilometer und 1.900 Jahre in die östliche Ägäis im Mittelmeer, in das Insel-Gewirr zwischen Griechenland und der Türkei, auf die winzige griechische Insel Patmos, keine sechzig Kilometer vor der türkischen Küste.

Eine hügelige, eine eigentlich karge und vor allem wild zerklüftete Insel. Steil erhebt sie sich aus dem Meer. Ginster, Thymian und Dornenbüsche bedecken den hügeligen Boden von Patmos, Schatten spendende Bäume gibt es nur wenige. Im Sommer ist es brütend heiß, im Winter empfindlich kalt. In römischer Zeit war Patmos eine Sträflingsinsel am Ende der zivilisierten Welt. Aber an diesem gottverlassenen Ort entstanden die Visionen des aufregendsten Buches der Bibel, niedergeschrieben irgendwann in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts.

Johannes: Dies ist die Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, um seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll; und er hat sie durch seinen Engel gesandt und seinem Knecht Johannes kundgetan.

„Was in Kürze geschehen soll“, das war die Rückkehr Jesu Christi auf die Erde, wenn er als ersehnter Messias sein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit aufrichten würde. Das war es, worauf die Christen in jenen Jahrzehnten sehnlichst warteten. Aber – er kam nicht. Die ganze bekannte Welt stand unter der eisernen Knute des römischen Imperiums, das mit seinen Legionen und überragender Militärtechnik jeden Widerstand in kürzester Zeit platt machte. Etwa dreißig Jahre nach der Kreuzigung Jesu auf Golgatha begannen die römischen Machthaber zu begreifen, dass die Christen mehr waren als eine kleine jüdische Sekte: Denn diese weigerten sich hartnäckig, den Kaiser in Rom als Gott anzuerkennen. Das war Hochverrat. Es gab kurze Prozesse und viele Todesurteile.

Unter den wegen ihres christlichen Glaubens Verurteilten war auch ein gewisser Johannes, der als Christ zwar nicht zum Tode verurteilt, aber für einige Jahre nach Patmos verbannt wurde. Über ihn als Person wissen wir nur sehr wenig. Er selbst nennt sich in jüdischer Tradition einen Propheten . Seine Redeweise und seine Gedanken lassen tatsächlich vermuten, dass er ursprünglich ein Jude war und aus Palästina kam.

Was Johannes auf der Sträflingsinsel Patmos in langen Visionen erlebte, soll er nach seiner Rückkehr aufs Festland einem Vertrauten namens Prochoros zur Niederschrift diktiert haben. In unseren Gedanken treffen wir die beiden heute Morgen irgendwo an der lykischen Küste in einem der vielen einfachen, weiß gekalkten Würfelhäuser im Hafenviertel.

Johannes: "Schreib: Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse an der Bedrängnis und am Reich und an der Geduld in Jesus, war auf der Insel, die Patmos heißt, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus."
Prochoros: (schreibt) "… und des Zeugnisses von Jesus."
Johannes: "Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune, die sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch."
Prochoros: "Und? Hast gesehen, wer es war?"
Johannes: (grüblerisch) "Er sah aus wie ein Menschensohn, mit weißem Haar, mit langem Gewand und goldenem Gürtel. Seine Augen waren wie Feuer und seine Füße wie glühendes Gold. Aus seinem Mund kam ein scharfes Schwert, und sein Gesicht leuchtete mit der Macht der Sonne. Ich fiel um – wie tot."
Prochoros: (ängstlich) "Und dann?"
Johannes: "Fürchte dich nicht! sagte er. Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle."

Die Offenbarung des Johannes am Ende der Bibel ist eine atemlose Schau sich überstürzender und überlagernder Bilder und religiöser Anspielungen. Vieles davon erscheint heute sehr fremd und rätselhaft. In der Geschichte seiner Zeit sah Johannes ein gewaltiges, geradezu kosmisches Drama sich abspielen. Schauplatz war die ganze Erde, und das hieß damals: Das römische Weltreich. Und Rom stand bereit zum Vernichtungs-Angriff auf die Christen, die doch die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten leben wollten.

Es waren wilde und wirre Jahrzehnte in dieser zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts nach Christus. Nach sechzig Jahren römischer Herrschaft in Palästina und einer erdrückenden Steuerpolitik der Besatzer brach ein jüdischer Aufstand los, der vier Jahre später mit der völligen Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 nach Christus endete. Rund eine Million Juden verlor ihr Leben, rund 100.000 gingen in die Sklaverei. Die übrigen mussten das Land verlassen und flüchteten in alle Himmelsrichtungen. Der Name Judäa wurde von den Römern für immer getilgt. Wahrscheinlich wurde auch die Jerusalemer Gemeinde der ersten Christen bei der Zerstörung Jerusalems ausgelöscht. Für Johannes waren das alles klare Anzeichen für das Ende der Welt.

Mit dieser Erwartung war er nicht allein. Schon seit mehr als 100 Jahren mehrten sich damals die Stimmen, die glaubten, das Ende aller Zeiten sei gekommen. Und vielerorts verbreiteten sich Offenbarungserzählungen über das, was bald kommen werde. Das griechische Wort für Offenbarung heißt Apokalypse.

Apokalypse meint eigentlich Enthüllung, Entschleierung, und das seit alters her in einem fürchterlichen, einem grausamen Sinn: Eine Schau mit einem Ende voller Katastrophen. An apokalyptischen Visionen herrscht auch in unseren Tagen kein Mangel. Nicht wenige selbsternannte Propheten sehen die Menschheit auf dem sicheren Weg in den Untergang, und die schwarzen Schreckensbilder, die sie für die Endzeit ausmalen, nehmen häufig Anleihen bei den bald 2.000 Jahre alten Visionen des Johannes von Patmos.

Johannes: "Die sieben Engel mit den sieben Posaunen hatten sich gerüstet zu blasen. Und der erste blies seine Posaune; und es kam Hagel und Feuer, mit Blut vermengt, und fiel auf die Erde, und der dritte Teil der Erde verbrannte, und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte."
Prochoros: (ängstlich) "Feuer und Hagel vom Himmel … wie beim Vesuv, der Pompeji und Herculaneum mit Feuer und Asche begraben hat!"
Johannes: "Schlimmer. Und der zweite Engel blies seine Posaune; Und es stürzte etwas wie ein großer Berg mit Feuer brennend ins Meer und der dritte Teil des Meeres wurde zu Blut, und der dritte Teil der lebendigen Geschöpfe im Meer starb, und der dritte Teil der Schiffe wurde vernichtet."
Prochoros: "Wie Pompeji. Auch da sind große Schiffe im Aschenhagel untergegangen."
Johannes: "Und der dritte Engel blies seine Posaune; und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und auf die Wasserquellen …"
Prochoros: "Kein Wasser mehr … die Menschen müssen verdursten!"
Johannes: "Und der vierte Engel blies seine Posaune; und es wurde geschlagen der dritte Teil der Sonne und der dritte Teil des Mondes und der dritte Teil der Sterne, so dass ihr dritter Teil verfinstert wurde und den dritten Teil des Tages das Licht nicht schien, und in der Nacht desgleichen."
Prochoros: "Finsternis überall?"
Johannes: "So wird es sein."

Ein grausiges Bild jagt das andere, nur selten blitzt ein wenig Hoffnung auf, und so geht das Seite um Seite. Die Offenbarung des Johannes ist eine schwer verdauliche Lektüre. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zu den modernen Untergangspropheten: Bei ihnen kommt am Ende die Vernichtung alles Lebens. Bei Johannes zielen alle Bilder und Szenarien, so verstörend sie auch sein mögen, am Ende auf einen Neuanfang des Lebens im Geist Gottes.

Auf Patmos kann man heute eine Höhle besichtigen, über der später das Kloster der Apokalypse erbaut wurde. Dort zeigt man Besuchern eine Felsspalte, aus der einst die Stimme Gottes oder seines Engels ertönt sein und einen Absatz im Fels, der dem Sekretär Prochoros als Schreibpult gedient haben soll. Johannes selbst sagt zu diesem Thema nichts. Wir lassen das alles auch besser auf sich beruhen. Religiöser Tourismus hat seine eigenen Gesetze.

Unsicher ist jedenfalls, wann die Offenbarung des Johannes niedergeschrieben wurde. Früher vermutete man die Zeit des römischen Kaisers Nero. Der für seine Grausamkeit berüchtigte Kaiser beschuldigte die Christen, für den Brand von Rom verantwortlich zu sein. Daraufhin soll er sie als lebende Fackeln zur Volksbelustigung in seinen römischen Gärten zur Schau gestellt haben. Nero starb im Jahre 68.

Prochoros: "Mitten in Rom haben sie ein riesiges, rundes Amphitheater gebaut. 50.000 Menschen passen hinein. Sie nennen es Kolosseum, weil es so groß ist. Da kämpfen nicht nur Gladiatoren. Sie werfen dort Menschen wilden Tieren zum Fraß vor. Als Unterhaltung."
Johannes: "Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie ein Löwenrachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht."
Prochorus: "Panther und Bären und Löwen, das sind Tiere, wie sie im Kolosseum Menschen zerfleischen, vielleicht auch Christen. Aber was ist das Tier aus dem Meer?"
Johannes: "Frag nicht. Die Menschen beteten den Drachen an, weil er dem Tier die Macht gab und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kämpfen?"
Prochorus: "Niemand. So wie niemand gegen Rom und seine Legionen kämpfen kann. Sag, Johannes: Ist es – Rom?"

Die meisten Forscher vermuten heute, dass das Buch der Offenbarung sei in den achtziger oder neunziger Jahren des ersten Jahrhunderts verfasst worden, als in der Regierungszeit des Kaisers Domitian systematische Christenverfolgungen einsetzten. Für die Anhänger des Jesus Christus waren es lebensgefährliche Zeiten. Nichts sehnten sie mehr herbei, als dass das alles aufhören und ihr Herr endlich, endlich wiederkommen möge. Geradezu täglich erwarteten sie seine Ankunft und damit das Ende ihrer Leiden und den Beginn einer neuen Zeit. Ankunft heißt lateinisch adventus – Advent.

Wie eine Festung mit wuchtigen erdbraunen Mauern und Ecktürmen erhebt sich heute auf Patmos das so genannte Kloster des Johannes aus dem 11. Jahrhundert über den weißen Häuserwürfeln der Inselhauptstadt Chora. Es stammt aus einer Zeit, als das Christentum längst von einer verfolgten Minderheit zu einer Staatsreligion geworden war. Man feierte nicht mehr nur Ostern und Pfingsten, sondern auch Weihnachten als das Fest der Geburt Jesu – und davor die Zeit feierlicher Erwartung – den Advent.

Was heute weithin vergessen ist, war damals noch lebendig: Die Erinnerung an die unzerstörbare Hoffnung der Christen, dass Hass und Gewalt nicht das letzte Wort auf der Welt haben sollen und werden. Der Advent war eine ernste Zeit der Besinnung auf die Ankunft Jesu. Mit Fasten und Gebeten erinnerten sich die Christen im Advent gegenseitig auch an das Neue Jerusalem, das in der Offenbarung des Johannes als großes Zukunftsbild am Ende aller apokalyptischen Szenarien steht:

Johannes: "Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe ich mache alles neu!"

Advent und Weihnachten haben in unserer Zeit ihren ursprünglichen großen Ernst weithin verloren. Vielleicht ist das ein Grund für die Enttäuschung Vieler, wenn nach den Feiertagen die Welt weiter dunkel ist. Ob und wann es einmal ein großes Ende der Welt mit Gericht und Rettung geben wird, wie es Johannes auf Patmos schaute – wir wissen es nicht, und wir brauchen es auch nicht zu wissen. Es wäre ohnehin jenseits aller Vorstellungskraft. Aber damals wie heute im Advent gelten für Christen die letzten Worte der Offenbarung des Johannes – und damit die letzten Worte der Bibel:

Johannes: "Amen, ja, komm, Herr Jesus."

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