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Zusammenleben lernen

Zusammenleben lernen

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt

Bei einer Fahrradtour durch den Wald vor den Toren von Darmstadt machen wir Rast an einem alten Gemäuer. Hier stand im 18. Jahrhundert eine Jagdhütte der hessischen Grafen. Und viele hundert Jahre davor gab es an dieser Stelle einen römischen Tempel. Dieser Tempel wiederum war auf einem Hügelgrab errichtet worden, das aus der Bronzezeit stammt. Es war etwa 1000 vor Christus von Menschen aufgehäuft worden. Das erzählt ein Schild am Waldparkplatz in der Nähe.

Ich bin beeindruckt. Mitten im Wald stehen wir an einem geschichtlichen Ort. Keine Schlacht hat sich da ereignet, keine bedeutende Architektur ist zu sehen, die die Zeiten überdauert hätte. Aber es ist ein Ort, der etwas über Menschen erzählt. Jede der Schichten im Boden berichtet vom Leben in unterschiedlichen Zeiten. Ich versuche, mir das vorzustellen: Die Kelten, die das Hügelgrab gebaut haben, sind die ausgestorben oder weggezogen, als die Römer kamen? Oder haben sie über bestimmte Epochen gleichzeitig hier gesiedelt? Wie lebten sie zusammen?

Wir haben keine Texte vom Leben der Menschen früher hier. Aber der Boden ist das Geschichtsbuch. Durch die Archäologie kann man aus der Erde, aus Steinen und Funden so viel ablesen. Die Archäologen haben Knochen und Gefäße ausgegraben, Schmuck und Handwerksgegenstände. Und natürlich auch Waffen: Pfeile, Speerspitzen, Schwerter. Mitten in diesem Wald fühle ich mich plötzlich als Teil einer Geschichte, die mehr als dreitausend Jahre zurück reicht.

Menschen haben hier gegessen und getrunken, gearbeitet und geliebt. Schon die Kelten konnten Holz und Stein bearbeiten. Sie haben Schlüsseln aus Ton getöpfert und Metall geschmiedet. In der Nähe gibt es ölhaltigen Schiefer und Kupfer. Das waren begehrte Materialien, die von Händlern weiter verkauft wurden. Aber nur friedlich ist das sicher nicht immer gewesen. Wo Menschen zusammenleben, gibt es Konflikte. Das war früher genauso wie heute. Wie haben die Menschen das damals gelöst?

Wenn ich an so einem Platz stehe wie im Wald bei Darmstadt, wo viele Schichten der Geschichte im Boden verborgen liegen, frage ich mich: Wie sind die Menschen damals damit umgegangen, dass immer wieder neue Leute dazukamen? Aus der Geschichtsforschung wissen wir: In Hessen siedelten viele unterschiedliche Völker. Kelten, Sueben, Römer, Franken. Manchmal war ihr Zusammentreffen kriegerisch. Die einen haben gegen die anderen gekämpft. Es gab Konflikte und Gewalt. Dörfer und Städte wurden überfallen, Bauern das Vieh geraubt. Menschen flohen, wurden verschleppt oder starben.

Aber man weiß auch: Die meisten Einwanderungen geschahen friedlich. Die Menschen kamen hierher und blieben. Hier kann man gut leben, handeln, Ackerbau betreiben und jagen. Die Zuwanderer brachten ihre eigene Kultur mit: die Sprache, Gebräuche, Musik, Speisen und auch ihren Glauben. Und sie haben im Lauf der Zeit vieles von den Einheimischen übernommen. So kam auch das Christentum hier in die Gegend. Die ersten Christen waren wahrscheinlich römische Legionäre in Mainz. In der römischen Armee gab es Leute aus allen Regionen des römischen Reiches. So war auch die kleine christliche Minderheit eine bunt zusammengewürfelte Gruppe. Da gab es den Offizier aus Ostia bei Rom und den Soldaten aus dem heutigen Ungarn.

Diese unterschiedlichen Menschen glaubten an Christus. Das heißt noch nicht, dass sie immer ein Herz und eine Seele waren. Wie oft es in den ersten christlichen Gemeinden gekracht hat, kann man in den Briefen des Apostels Paulus nachlesen. Denn da gab es viele Unterschiede zu überbrücken. Zum Beispiel haben bei den Treffen der Gemeinde die reichen Christen schon mit dem Essen angefangen. Bis die einfachen Arbeiter dazukamen, war schon fast alles weg gegessen. Die einen hatten das Gefühl, dass ihre Witwen und Waisen links liegen gelassen werden, während die der anderen christlichen Volksgruppe gut versorgt wurden. Alltagsprobleme, wie sie in jeder Nachbarschaft vorkommen, aber auch in der Gesellschaft. Wer kriegt wieviel? Wer wird wie wertgeschätzt?

Die ersten Christen im römischen Reich und auch hier in Hessen waren ein buntes Völkchen. Und wie es ist, wenn man verschieden ist: Es gibt Konflikte. Der andere ist anders. Das ist manchmal ganz reizend und manchmal nur reizend und nervig. Wie haben die Christen damals ihre Unterschiede überbrückt? Und wie hilft das für heute?

Jesus hat gelehrt: Die Liebe Gottes gilt allen Menschen. Sie verbindet über Unterschiede hinweg. Jesus hat seinen Jüngerinnen und Jüngern ans Herz gelegt, den Nächsten zu lieben. Sogar den Fremden. Und sogar den Feind.
Jeder weiß, das ist alles andere als einfach. Und das Gebot der Nächstenliebe wurde in der Geschichte des Christentums oft auch vergessen. Aber die Worte Jesu bleiben eine Quelle. Immer wieder haben sich Christen erinnert, dass das ihr eigentlicher Auftrag ist. Es ist ein hohes Ziel, dass Menschen über Unterschiede hinweg auf Gottes Erde gut zusammenleben können. Wie gelingt das im Alltag? In der Bibel finde ich Erfahrungen, die da ganz praktisch helfen.

Miteinander auszukommen. Das heißt nicht immer, dass man ein Herz und eine Seele sein muss. Manchmal hilft es auch zu erkennen und auszusprechen: An dieser Stelle kommen wir nicht überein. Du siehst es anders als ich. Aber beide haben wir ein Recht auf unseren Weg, auf unsere Sicht und Lebensweise. Darum ist es dann gut, nicht krampfhaft alles auf einen Nenner bringen zu wollen. Jeder kann bei Seinem bleiben, solange wir uns nicht aus den Augen verlieren. Schiedlich, friedlich – das kann manchmal eine Lösung sein.

Was aber tun, wenn die Unterschiede richtig aufeinander prallen? Der Apostel Paulus schreibt: Wenn du dich über einen andern ärgerst oder er dir Unrecht getan hat, dann sprich nicht über ihn, sondern zuerst mit ihm oder ihr. Das kann schon jede Menge Missverständnisse aus dem Weg räumen. Auf jeden Fall gibt es dem anderen die Ehre der Auseinandersetzung. Das fängt schon in der Familie und in Freundschaften an. Miteinander zu reden, das gilt auch im Politischen. Man muss sich miteinander verständigen und anerkennen, welche Rechte und Gesetze gelten. Darüber muss man sich über die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen hinweg einigen.

Aus meinem christlichen Glauben bringe ich die Zuversicht mit ein, dass das geht. Ich halte an der Hoffnung fest, dass Unterschiede nicht nur Konfliktstoff sind, sondern auch bereichern können. Ich erlebe das bei Menschen anderer Herkunft und bin oft beeindruckt von ihrer Lebensfreude, ihrer Zukunftshoffnung und ihrem Familiensinn. Ich wünsche mir, dass die Geschichtsbücher eines Tages davon erzählen, wie Europa im 21. Jahrhundert neu das Zusammenleben gelernt hat. Menschen aus verschiedenen Kulturen, die zueinander finden, das war ja schon immer Teil unserer Geschichte. Hoffentlich so, wie schon seit dreitausend Jahren – damit wir ein buntes Völkchen bleiben.

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