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Jetzt! Die Kraft der Gegenwart
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Jetzt! Die Kraft der Gegenwart

Anke Jarzina
Ein Beitrag von Anke Jarzina, Katholische Pastoralreferentin in der Pfarrei St. Peter und Paul in Wiesbaden
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“Denke daran, dass die Gegenwart alles ist, was du hast. Mache das Jetzt zum Mittelpunkt deines Lebens.” Nein, das ist kein Zitat aus der Bibel, auch wenn es ein bisschen so klingt. Ich hab es aus dem Buch „Jetzt – Die Kraft der Gegenwart“ von Eckart Tolle. Tolle ist seit einigen Jahren einer der populärsten Autoren spiritueller Bücher – und ich find ihn gar nicht schlecht. Vor allem gefällt mir die Kernaussage: Das Leben findet jetzt statt. Nicht gestern, nicht morgen. Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft existiert noch nicht. Es gibt immer nur den Moment, das Jetzt – und das kann ich gestalten. Das klingt einleuchtend!

Den Augenblick bewusst zu leben

Im Jetzt sein, gegenwärtig sein - das ist der Schlüssel zum Glück. So stellen es viele Lebenshilfe-Ratgeber dar. Der Gedanke selbst ist überhaupt nicht neu, im Gegenteil: „Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft. Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment", soll bereits Buddha im fünften Jahrhundert vor Christus gesagt haben. Ihm wie auch Eckhart Tolle und anderen spirituellen Lehrmeistern unserer Zeit geht es dabei um mehr, als nur den Augenblick zu genießen. Es geht darum, bewusst im Augenblick zu sein. Sich bewusstwerden: Jetzt bin ich da. Egal, ob meine Lebensumstände genießbar sind oder nicht. Die ändern nämlich nichts an der Tatsache, dass ich existiere.

Ist mir der Weg zum Glück verstellt?

Mein gegenwärtiges Sein bewusst wahrnehmen - das klingt einfacher, als es ist. Wenn ich es versuche, geht es mir oft wie einer Akrobatin, die auf einem Drahtseil zwischen Vergangenheit und Zukunft balanciert. Das ist gar nicht so leicht: Exakt auf dem dünnen Seil „Gegenwart“ bleiben, einen Fuß vor den anderen setzen - und dabei nicht in die eine oder andere Richtung schwanken. Ich gebe zu: Ich gehöre zu den Menschen, die gerne planen, vorausdenken, vorsorgen. Das muss ich ja auch, ansonsten läuft der Laden nicht! Damit der Alltag in Familie und Beruf funktioniert, muss ich mich einfach um ein paar Dinge kümmern. Ist mir deshalb der Weg zum Glück verstellt?

Dieser Satz ist Teil einer Wette

Das Jetzt einfach bewusst wahrnehmen, ganz unbekümmert im gegenwärtigen Moment sein – und zwar am liebsten andauernd: Die Sehnsucht danach kenn ich schon lange. Und ich hab‘ sie wiedererkannt, als ich in der Schule Goethes berühmtes Werk „Faust I“ gelesen hab. Da sagt Faust zu Mephisto: „Werd‘ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehen!“ Dieser Satz ist ja Teil einer Wette zwischen Faust und Mephisto, der in Goethes Tragödie den Teufel repräsentiert. Mephistos Aufgabe besteht darin, Fausts Sehnsucht nach Erkenntnis und Glück nie in Erfüllung gehen zu lassen. Er würde die Wette verlieren, wenn Faust doch einmal einen vollkommen glücklichen Augenblick erleben und diesen festhalten könnte.Faust hält dieses Ziel für so erstrebenswert, dass er dafür sogar „zugrunde gehen“ würde. Für einen solchen, beständigen Moment des Glücks wettet Faust nicht weniger als - sein Leben   

"Dann bin ich ganz im Hier und Jetzt"                                                                                     

Ehrlich gesagt: Dieser Preis wäre mir zu hoch. Das Glück des gegenwärtigen Augenblicks, das muss doch auch einfacher zu haben sein! Das sehe ich zum Beispiel, wenn ich meinen Kindern beim Spielen zuschaue. Die sind manchmal so versunken in ihr Tun, dass sie gar nicht hören, wenn ich sie rufe. Sie brauchen dafür keine meditative Vorbereitung und schon gar keinen Pakt mit dem Teufel. Sie sind einfach, wie sie sind, im Moment, und haben ihre umherschweifenden Gedanken komplett abgeschaltet. Beneidenswert. Aber: Manchmal passiert mir das auch: Wenn ich ein total spannendes Buch lese. Oder beim Sport. Ich kenne das auch in meiner Arbeit: Dann bin ich ganz im Hier und Jetzt und total bei der Sache. Es gibt sogar einen Fachausdruck für dieses Aufgehen in seiner Tätigkeit: „Flow“ nennen die Glückswissenschafter dieses Gefühl. Dann zählt nur der gegenwärtige Augenblick. Aber sobald ich denke: „Oh, ich bin ja gerade im Flow!“, dann ist sie auch schon wieder vorbei, die schöne Gegenwärtigkeit. Ganz schön knifflig! Da muss es doch irgendwelche Tricks geben!

 

Meinen Körper bewusst wahrnehmen

Wie mach ich das: Bewusst im Jetzt, ganz gegenwärtig sein? Zuallererst fällt mir da mein Körper ein. Der kann mich nämlich ganz schön kraftvoll in die Gegenwart holen. Wenn ich zum Beispiel heftige Zahnschmerzen habe, dann kann ich an gar nichts anderes mehr denken. Dann fühl ich nur den Schmerz, jetzt. Gott sei Dank klappt das auch mit entgegengesetztem Vorzeichen: Wenn es mir einfach nur gut geht, ich mir mein Lieblingsessen auf der Zunge zergehen lasse oder ich einem anderen Menschen ganz bewusst körperlich nahe bin – dann wird mein Bewusstsein regelrecht in die Gegenwart gezogen, es geht gar nicht anders. Meinen Körper und seine Empfindungen bewusst wahrnehmen: Das bringt mich ins Jetzt, dann bin ich wirklich gegenwärtig.

Die Gegenwärtigkeit auch in der katholischen Tradition zu finden

Ich bin nicht sicher, ob dieser letzte Satz zur buddhistischen Lehre oder in die Denkweise von Eckhart Tolle passt. Aber ich bin ja auch keine Buddhistin, sondern Katholikin. Und als solche kann ich sagen: Die Sache mit der Gegenwärtigkeit, die begegnet mir auch in der katholischen Tradition. Da sind ja auch ganz bestimmte körperliche Erfahrungen wesentlich für den Glauben. Theologen sprechen von den Sakramenten: Äußere Zeichen, die die Nähe Gottes und seine Liebe ganz konkret spürbar machen, sozusagen ins Jetzt holen. Taufe oder Firmung sind solche Sakramente. Oder die Eucharistie - umgangssprachlicher: die Kommunion. Der heutige Festtag Fronleichnam ist diesem Sakrament sogar gewidmet. Traditionell wird an Fronleichnam bei festlichen Prozessionen die Hostie in einem kostbar verzierten Gefäß - der Monstranz - hoch erhoben durch die Straßen getragen und verehrt. Die Hostie: Das ist die Oblate, das kleine Stück Brot, das bei der Kommunion verteilt wird – und von dem katholische Christen glauben: Jesus ist dort anwesend, gegenwärtig.

Aus der Vergangenheit ins Jetzt geholt

Gegenwärtig sein, im Jetzt sein: Nach katholischem Glauben passiert das bei der Kommunion eigentlich doppelt: Zum einen ist Jesus da. In der Messfeier wird er durch die Segensworte über Brot und Wein aus der Vergangenheit ins Jetzt geholt. Denn: Die versammelte Gemeinde handelt in dem Moment genau so, wie er es damals beim letzten Abendmahl getan hat. Und zweitens: Wenn ich die Hostie in den Mund nehme, mir auf der Zunge zergehen lasse, dann ist das eine körperliche Erfahrung, die auch mich ganz bewusst ins Jetzt holen kann.

Das ist schon was ganz Besonderes...

Ich gebe zu: Nicht immer, wenn ich die Kommunion empfange, bin ich mit meiner vollen Aufmerksamkeit dabei. Manchmal schweifen meine Gedanken auch ab. Aber meistens bin ich ganz bei der Sache. Dann werde ich durch dieses Stückchen Brot in meinem Mund total in die Gegenwart gezogen. Dann bin ich da, gegenwärtig – und Jesus ist es ja auch. Das ist schon was ganz Besonderes: Wenn ich mich so verbunden fühle mit Jesus - über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg.

Dieses Gefühl von Verbundenheit mit Jesus hilft mir, ihn besser zu verstehen. Mir wird dann klarer, was hier und jetzt wichtig ist, was gerade dran ist. Diese Verbindung mit Jesus gibt mir Kraft: So kann ich die Balance zwischen Vergangenheit und Zukunft gut halten, den gegenwärtigen Moment, das Jetzt, zum Mittelpunkt meines Lebens machen. Und dann bin ich tatsächlich glücklich.

 

 

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