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Es gibt nicht die Wahrheit, sondern nur Wahrheiten

Es gibt nicht die Wahrheit, sondern nur Wahrheiten

Uwe Groß
Ein Beitrag von Uwe Groß, Katholischer Diakon, Pfarrei St. Peter und Paul, Wiesbaden
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„Ich habe erkannt, dass es nicht die Wahrheit, sondern nur die Wahrheiten gibt“, diesen Satz hat einmal Willy Brandt in einem Fernsehinterview gesagt. Das liegt Jahrzehnte zurück, und ich war damals Jugendlicher – es war vermutlich in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, aber mich hat dieser Satz beeindruckt. So beeindruckt, dass ich ihn noch heute abrufen kann. "Ich habe erkannt, dass es nicht die Wahrheit, sondern nur die Wahrheiten gibt.“ Willy Brandt ist für mich bis heute ein großer Politiker geblieben. Ich habe als Kind 1972 Wahlplakate für ihn mit meinem Fahrrad ausgefahren. Mein Vater war nämlich Sozialdemokrat. Und wenn ich an seinen Kniefall im KZ Auschwitz und seine Ostpolitik denke, dann weiß ich: Er war ein Mann des Friedens und der Versöhnung.

Vor allem aber ist mir dieser Satz von ihm hängengeblieben: „Ich habe erkannt, dass es nicht die Wahrheit, sondern nur die Wahrheiten gibt.“ Vermutlich hat er ihn nur beiläufig in einem Interview gesagt, denn ich konnte ihn nachträglich im Internet nicht mehr finden. Aber ich weiß, dass ich ihn von Willy Brandt gehört habe. Mir bedeutet dieser Satz so viel, weil ich auch immer wieder die Erfahrung mache: Es gibt nie nur den einen Blick auf die Wirklichkeit – sondern immer verschiedene Betrachtungsweisen. Und jeder Mensch sieht eine Sache ebenso, wie er die Situation erlebt hat. Das spüre ich zum Beispiel häufig bei Trauergesprächen, die ich führe. Ich gehe dann zu den Angehörigen eines Verstorbenen und nehme mir Zeit, um mit ihnen über ihren toten Vater oder ihre tote Mutter zu reden. Da gibt es dann erwachsene Kinder, die in einer großen Distanz zu ihren Eltern gelebt haben, die wenig Kontakt hatten oder den Kontakt ganz abgebrochen haben. Und es gibt auch Geschwister von ihnen, die sehr gut mit denselben Eltern auskamen. Der jeweilige Standpunkt hängt immer von den Erfahrungen ab, die einer gemacht hat. Dasselbe lässt sich bei einem ganz harmlosen Streit auf dem Schulhof beobachten: Kinder streiten sich: „Der hat angefangen“ – „Nein, aber sie hat zuerst das getan“. Mir macht das immer wieder klar: Jeder hat seine Perspektive, wie der die Dinge erlebt und beurteilt. Und oftmals hängt unsere Perspektive davon ab, wie wir geprägt wurden, wie wir erzogen worden sind.

Ich bin als Kind in einem Dorf aufgewachsen, in dem alle – bis auf den letzten Mann, die letzte Frau, das letzte Kind – katholisch waren. Das hat mich natürlich geprägt, und ich bin dadurch stark katholisch sozialisiert worden. Ich habe zum ersten Mal bewusst jemanden nicht – katholisches in der vierten Klasse wahrgenommen, als evangelische Kinder dazukamen. Davor dachte ich alle Menschen seien katholisch.

„Ich habe erkannt, dass es nicht die Wahrheit, sondern nur die Wahrheiten gibt.“ Dieses Wort Willy Brandts bedeutet mir viel. Es sagt mir: Ich bin vorgeprägt und sehe die Dinge durch meine Brille, so wie andere mit einer anderen Prägungen und einer anderen Brille auf die Dinge schauen. Wichtig für mein Leben ist geworden, anderen Menschen ihre eigene Deutung zuzugestehen. Mit dieser Haltung hat Willy Brandt Frieden bewirkt, und mit dieser Haltung kann ich es auch.

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