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Einmal am Tag muss es sein
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Einmal am Tag muss es sein

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Einmal am Tag muss es sein. Walter geht in eine Ecke des großen Zimmers. Dort steht Maria. Als kleine Porzellanfigur. Sie steht einfach da, unscheinbar. Was an ihr leuchtet, ist ein bläulicher Mantel, den sie ein wenig offen trägt. Walter geht hin zur Mutter Maria, beugt sich vor sie und sagt leise: Maria, breit den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus. Er achtet auf jedes Wort. Mehr sagt er nicht. Einmal am Tag.

Und das seit Jahren. Walter ist Ende sechzig und Architekt. Im Keller des Hauses hat er sein Büro. Eine Angestellte gibt es noch. Es waren mal vier. Aber der Beruf klingt aus. Er hat genug Geld und keine Lust mehr auf Häuser und Brücken. Er hat genug gebaut, meint er. Es hat immer gedauert, bis die Kunden zufrieden waren. Noch eine Änderung und noch eine. Kunden sind anstrengend; vor allem die mit Geld. Denen fällt jeden Tag Neues ein. Natürlich gehorcht Walter, auch wenn er die Pläne nicht schön findet. Er verdient ja an ihnen. Jetzt nicht mehr viel. Es ist genug. Über der Arbeit hat er sein Leben verloren, sagt er. Sein bisschen Familie auch. Der Sohn ist weit weg; seine Ehefrau gestorben. Walter ist alleine. Ein paar Freunde hat er, einen Stammtisch und das Schach spielen. Das hält ihn munter. Heimat ist das nicht.

Heimat ist Maria. Walter geht in keine Kirche. Die Gebete, die Predigt, die Feste wie Ostern – nicht nüchtern genug. Maria dagegen steht nur da. In der Ecke des großen Zimmers. Sie will nichts. Walter will etwas von ihr. Wer keine Heimat hat, hat mehr Angst in der Welt. Das spürt Walter. Maria hat er schon immer geliebt. Sie leuchtet unscheinbar. Und prahlt mit nichts. Ihr blauer Mantel steht leicht offen. Maria, breit den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus. Einmal am Tag sagt er das. Nur für sich. Walter flüstert sich seine Heimat. Die Figur ist noch von seiner Oma. Wegwerfen ging nicht. Ein bisschen angeschlagen ist das Porzellan. Aber nur hinten, da sieht man es nicht. Vorne leuchtet der Mantel wie früher. Der Schutzmantel, wie man sagt. Da schlüpft man hinein, sozusagen. Und ist Zuhause. Wie das Kind, als es die Oma noch gab. Das braucht Walter. Eigentlich jeder. Heimat ist, wo man weniger Angst hat.

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