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Die geflügelte Jahresendfigur und die Gastfreundschaft
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Die geflügelte Jahresendfigur und die Gastfreundschaft

Dr. Annegreth Schilling
Ein Beitrag von Dr. Annegreth Schilling, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Ich liebe es, Gäste zu haben. Nach den Einschränkungen der letzten Monate atme ich seit dem Sommer richtig auf. Die meisten meiner Freundinnen und Familienmitglieder sind geimpft oder genesen – und wenn nicht, dann testen sie sich.

Endlich wieder Besuch haben und selbst besuchen können

Wir schmieden Pläne für Besuche bei uns zu Hause, und ich gerate dabei regelrecht ins Schwärmen: Wann kommt wer und was ist dafür zu tun. Am schönsten sind die Besuche mit Übernachtung, bis spät abends zusammensitzen und dann früh mit kleinen Augen im Schlafanzug frühstücken.

Schon in der Bibel steht: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht..."

In der Bibel gibt es eine wunderschöne Erinnerung daran, dass es gut tut, Gäste zu haben. Dort es heißt: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht. Denn dadurch haben einige, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.“ (Hebr 13,2)

Der Schlafsack lag griffbereit im Schrank

Für mich gehört Gastfreundschaft nicht nur zum guten Ton. Sie ist ein wichtiger Teil von mir selbst, denn ich habe Gastfreundschaft von klein auf inhaliert. Ich bin in Dresden aufgewachsen, bis zur zweiten Klasse in der DDR, dann Friedliche Revolution und Wiedervereinigung. Wir hatten oft Besuch. Es gab zwar kein extra Gästezimmer, aber ein ausziehbares Bett. Schulfreundinnen konnten spontan übernachten, der Schlafsack lag griffbereit im Schrank und irgendwo hat sich immer auch eine frische Zahnbürste gefunden.

Besuch aus dem Westen war was ganz Besonderes

Besonders toll war für uns Kinder, wenn Besuch aus dem Westen kam. Mein Bruder und ich lagen auf einer kleinen Mauer vor unserem Haus auf der Lauer und warteten ungeduldig bis endlich der VW-Bus unserer Freunde vorfuhr. Eine Attraktion für die ganze Straße!

Als Kind konnte ich es kaum erwarten, bis die Gäste endlich die Jacken abgelegt und den Koffer abgestellt hatten. Denn meistens gab es dann ein kleines Gastgeschenk: Eine lila Tafel Schokolade mit knisterndem Alupapier – nur für mich! Das war himmlisch.

Ein offenes, gastfreundliches Haus tut der Seele gut

Schon damals habe ich gespürt, wie gut es tut, wenn Besuch kommt. Die Stimmung in der Familie hebt sich, alle sind herzlich und nett zueinander, es wird viel gelacht und wir durften länger aufbleiben als sonst. Ein offenes, gastfreundliches Haus tut der Seele gut. Gerade nach diesen Zeiten der Beschränkungen der Pandemie merke ich, wie sehr ich das in den letzten Monaten vermisst habe: Gäste willkommen zu heißen oder bei anderen zu Gast zu sein.

Heute am Tag der Deutschen Einheit denke ich darüber nach, wie selbstverständlich meine Eltern damals zu Hause in Dresden Gastfreundschaft gelebt haben – besonders zwischen Ost und West. Manchmal hatten wir Besuch von Freunden oder Verwandten aus dem Westen.

Pakete - eine andere Möglichkeit verbunden zu sein

Und wenn Besuche nicht möglich waren, dann gab es zu DDR-Zeiten noch diese tolle andere Weise, miteinander verbunden zu sein: Das waren die Pakete. Wenn ein Westpaket bei uns ankam, dann war das wie ein heiliger Moment. Feierlich knüpften wir die Paketschnur auf. Meine Mutter rollte sie immer erst sorgfältig zusammen, bevor wir das Paket ganz aufmachen durften.

Der Duft seines Inhalts war unbeschreiblich: eine Mischung von Kakao, Waschpulver und Schokolade. Wir wurden reich beschenkt.

Westpakete waren Geschenke der Zuneigung und Freundschaft

Ich habe diese Geschenke nie als beschämend erfahren. In der DDR der 80er Jahre, in der ich groß wurde, gab es genug Lebensmittel, Kleidung und Medikamente, auch wenn die ein oder andere sogenannte „Bückware“ darunter war: also das, was erst auf Nachfrage unter dem Ladentresen hervorgeholt wurde. Darum waren die Westpakete in meiner Erinnerung keine Pakete für Bedürftige, sondern Geschenke der Zuneigung und Freundschaft.

Es gab aber auch "Ostpakete"

Auch wir haben Pakete geschickt. Der Begriff „Ostpakete“ hat zwar nie Eingang in das kollektive Gedächtnis gefunden. Aber auch wir schickten Leckereien zu unseren Freunden und Verwandten in den Westen: selbstgebackenen Dresdner Stollen oder eine ungarische Salami. Und manchmal sogar Holzfiguren aus dem Erzgebirge: Engel mit hauchdünnen Holzflügeln und zart geschnitzten Gesichtern.

Ein Bote Gottes wird per Post über die scharf kontrollierte Grenze geschickt

Diese Weihnachtsengel waren sehr beliebt und schwer zu kriegen. Im DDR-Jargon hießen sie „geflügelte Jahresendfiguren“. Denn das Wort Engel war für die atheistische Ausrichtung der DDR zu religiös.

Im christlichen Sinn ist ein Engel ein Bote Gottes: ein Zeichen der Liebe und der Mitmenschlichkeit. Ich finde die Vorstellung heute noch schön: Meine Familie hat damals ein Paket mit einem Engel per Post über die scharf kontrollierte Grenze geschickt.

Ein Zeichen der Gastfreundschaft, auch wenn ein direkter Besuch nicht möglich war

Der handgeschnitzte Engel, den meine Mutter ihrer Cousine im Westen geschickt hat, zeigt mir: Die Pakete zwischen Ost und West waren mehr als der Austausch von Gütern und Waren. Das waren Geschenke der Freundschaft und Verbundenheit. Ein Zeichen der Gastfreundschaft, auch wenn ein direkter Besuch nicht möglich war.

"Wie erlebe ich Gastfreundschaft heute?"

Heute am Tag der Deutschen Einheit denke ich an diese besondere Weise der Gastfreundschaft zwischen Menschen in der DDR und der BRD. In Besuchen oder indirekt durch Geschenkpakete. Und ich frage mich: Wie erlebe ich Gastfreundschaft heute – und wie riecht und fühlt sich diese Gastfreundschaft an?

Gastfreundlich sein geht ganz leicht

In der Bibel steht: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht. Denn dadurch haben einige, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.“ Dieser Satz aus der Bibel ist für mich ein Wegweiser. Gastfreundlich sein geht ganz leicht: Dafür braucht es nicht viel: eine offene Tür und ein Glas Wasser oder eine Tasse Tee, und ein wacher Blick füreinander, Interesse am anderen.

Und alles, was dann kommt, kommt auf mich zu. Ich glaube: Wer gastfreundlich ist, wird mit der Liebe Gottes beschenkt. In dem Bibelwort heißt es: Wenn wir gastfreundlich sind, kann es sein, dass wir Engel bei uns aufnehmen – ohne es vorher zu ahnen.

Kirchenasyl für eine Familie aus Afghanistan

In meiner Kirchengemeinde in Frankfurt haben wir im Januar dieses Jahres eine Familie aus Afghanistan ins Kirchenasyl aufgenommen. Die Familie mit zwei Teenagern musste befürchten, dass sie abgeschoben werden, obwohl sie schon mehrere Jahre in Europa gelebt haben.

Afghanistan – das war schon Anfang dieses Jahres kein sicheres Land, sondern lebensgefährlich. Wie sehr, das haben wir jetzt alle in den Bildern und Nachrichten aus Afghanistan erlebt. Ich bin dankbar, dass unsere Kirchengemeinde die afghanische Familie ins Kirchenasyl aufgenommen hat. Diese Gastfreundschaft war überlebenswichtig.

Diese Gastfreundschaft war überlebenswichtig

Ein großer Kreis von Helferinnen und Helfern hat sich sechs Monate lang um die Familie gekümmert und hat sie mit dem versorgt, was sie zum Leben brauchte: Reis, Mehl und Sonnenblumenöl stand jede Woche auf dem Einkaufszettel. Die Engagierten haben die Familie auch bei Arztbesuchen begleitet.

Die Gastfreundschaft entfaltete eine große Dynamik: Menschen, die sich bisher noch nicht kannten, standen manchmal täglich im Austausch miteinander. Sich kümmern, Nächstenliebe – das wurde ganz praktisch und konkret gelebt.

Wer bei wem zu Gast ist, hebt sich auf

Und es war keine einseitige Sache. Eine Helferin hat mir erzählt, wie sehr sie das gemeinsame Essen mit der Familie genossen hat. Afghanischer Reis mit Rosinen und Mandeln und vegetarische Teigtaschen dazu. Sie sagte mir: „Oft habe ich gar nicht den Eindruck, dass die Familie bei uns zu Gast ist. Sie sind mit dem Wenigen, was sie haben, so gastfreundlich zu uns. Wer bei wem zu Gast ist, hebt sich hier auf.“

"Vergesst die Gastfreundschaft nicht. Denn dadurch haben einige, ohne es zu wissen, Engel beherbergt."

Unweigerlich denke ich wieder an den Satz aus der Bibel: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht. Denn dadurch haben einige, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.“ Engel, keine geflügelte Jahresendfigur, sondern echte Engel. Und damit meine ich Botinnen und Boten Gottes, die Liebe und Lachen unter uns verbreiten.

G wie gastfreundlich

Ich freue mich auf den Herbst. Nicht wegen der 2G- oder 3G-Regeln, die mich daran erinnern, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Ich freue mich auf den Herbst, weil ich ahne: Er wird anders als letztes Jahr. Ich füge für mich zu der 2G- und der 3G-Regel noch die 4G-Regel hinzu: G wie gastfreundlich.

Dieser Herbst soll anders werden als letztes Jahr. Gastfreundlich und offen möchte ich mein Haus gestalten. Für alte Bekannte und für Menschen, die ich noch nicht kenne. Und wer weiß: Vielleicht kommt auch ein Engel vorbei.

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