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Achtsamkeit meint Nächstenliebe
Bildquelle: engin akyurt/Pixabay

Achtsamkeit meint Nächstenliebe

Ute Zöllner
Ein Beitrag von Ute Zöllner, Evangelische Pfarrerin i.R., Pastoralpsychologin, Kassel
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Die Türen der Bahn schließen sich. Der Zug fährt ab. Hauptverkehrszeit in Wien Mitte. Die U-Bahn ist voller Menschen. Aus dem Lautsprecher ertönt eine Stimme: „Seien sie achtsam, andere Fahrgäste benötigen ihren Sitzplatz vielleicht nötiger.“  Ich höre hin. Der freundliche Ton spricht mich an. Nun halte ich mich gerade an der Schlaufe fest, die über meinem Kopf baumelt. Ich habe keinen Sitzplatz für einen anderen Fahrgast zu vergeben. Aber eine junge Frau steht auf und macht einer älteren Dame Platz. Hat die verbindliche Durchsage ihr Ziel schon erreicht? Schwer zu sagen. Vielleicht wäre die junge Frau auch aufgestanden, ohne extra dazu aufgefordert zu werden.

„Gab es diese Durchsage schon immer?“ frage ich die Nachbarin. Wie ich hält sie sich an einer anderen Schlaufe fest. Sie lacht kurz auf. Bis vor einiger Zeit hieß es: „Sehr geehrte Fahrgäste. Wir bitten sie, ihren Sitzplatz anderen Personen zu überlassen, wenn diese ihn notwendiger brauchen.“ „Ganz schön kompliziert“, antworte ich, „da haben vermutlich nicht mehr viele Menschen hingehört.“ Sie nickt zustimmend. „Ja“, erzählt sie, „die Wiener Verkehrsbetriebe haben alle Durchsagen in den Bahnen und Bussen überarbeitet.  Es heißt auch nicht mehr: `Zurückbleiben, bitte. Sondern: `Steigen sie nicht mehr ein. `   Alles ist netter geworden. Das ist für alle schön, für uns Wiener und auch für die vielen Menschen, die uns besuchen.“ Unser Gespräch ist zu Ende. Der Lärmpegel ist einfach zu hoch.

In Gedanken hänge ich noch an der Durchsage fest. Liegt es am anderen Ton, dass ich anders hinhöre?  „Seien sie achtsam, andere Fahrgäste benötigen ihren Sitzplatz vielleicht nötiger.“ Die ersten drei Worte wecken mich auf. „Seien sie achtsam.“ Das meint umgangssprachlich so viel wie: Sei aufmerksam. Achte auf dich und auf andere.

Ihren Ursprung hat die Rede von der Achtsamkeit in einer anderen Religion, im Buddhismus. Dort steht sie in enger Verbindung mit ethischem Handeln. Daraus haben sich Übungen zur Achtsamkeit entwickelt. Mit Hilfe von Übungen kann ich nicht nur meinen Alltag entschleunigen, sondern bin auch aufmerksamer für die eigenen Bedürfnisse und die anderer Menschen.

„Seien sie achtsam.“ Ich kenne die Worte auch aus diesem Zusammenhang: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, heißt es in der Bibel. Für den christlichen Glauben ist das einer der entscheidenden Kernsätze.

„Liebe deinen Nächsten, denn er hat seinen Sitzplatz vielleicht nötiger als du.“ Das klingt anders, nicht so modisch wie die Durchsage in den Bahnen und Bussen der Wiener Verkehrsbetriebe. Aber gemeint ist doch das: Liebe deinen Nächsten und achte auf seine Bedürfnisse.

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