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Abschied
Bildquelle: Angela Yuriko Smith/Pixaby

Abschied

Claudia Rudolff
Ein Beitrag von Claudia Rudolff, Rundfunkpfarrerin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel
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Abschied nehmen fällt den meisten schwer. Besonders, wenn der Abschied einen unvorbereitet trifft.

Marie (– so nenne ich sie hier mal -) ist 59. Ihr Leben lang hat sie Sport gemacht. Jeden Morgen um sechs Uhr fährt sie vor der Arbeit eine Stunde Rad. Keine besonders anstrengende Tour. Einfach auf dem Radweg entlang des Flusses an ihrem Wohnort. Für sie ist das ein guter Start in den Tag.

Als sie an diesem Tag nach Hause kommt, öffnet ihr Mann Carl die Tür und fragt wie jeden Morgen: „Na, Marie, wie war‘s?“

„Wunderbar“, antwortet sie und will sich in der Küche ein Glas Wasser holen. Auf dem Weg dorthin bricht sie zusammen. Ihr Mann leistet erste Hilfe, alarmiert den Rettungswagen. Aber der Notarzt kann nichts mehr tun. Jede Hilfe kommt zu spät. „Akuter Herztod“ nennen das die Mediziner.

Carl kann es nicht fassen: Seine Frau Marie, eben noch lebendig und nun tot? Warum steht sie nicht einfach wieder auf? Warum ist nicht alles wie immer?

Innerhalb von Sekunden hat sich alles verändert: Sie werden jetzt keine Tasse Kaffee gemeinsam trinken. Keiner von beiden wird zur Arbeit fahren.

Carl ist die ersten Wochen wie gelähmt. Marie fehlt überall: ihr Gespräch beim Frühstück. Manchmal haben sie sich dabei gegenseitig aus der Zeitung vorgelesen. Die gemeinsamen Spaziergänge am Wochenende, Unternehmungen mit ihren erwachsenen Kindern.

Selbst ihre Streitigkeiten vermisst Carl.

Er ist unendlich traurig. Er spürt: Nichts und niemand kann ihm Marie ersetzen.

Ihm kommen immer wieder die Worte aus einem Gedicht in den Sinn: Den eigenen Tod sterben wir, aber mit dem Tod der anderen müssen wir leben. (Mascha Kaléko, „Memento mori“)

Carl ist kein besonders gläubiger Mensch. Trotzdem betet er jetzt manchmal und klagt Gott an: Warum hast du zugelassen, dass Marie so früh stirbt?

Dann gibt es wieder Momente, wo er sich wünscht, das glauben zu können: dass Marie im Himmel ist, gut aufgehoben bei Gott. So wie es die Pfarrerin bei der Beerdigung gesagt hat. Aber dann spürt er: Dieser Gedanke tröstet ihn nicht wirklich. Carl will nicht Abschied nehmen. Er will sein altes Leben wiederhaben. 

Carl muss ohne seine geliebte Frau leben. Die Pfarrerin hat ihm eine Karte dagelassen mit Worten von Dietrich Bonhoeffer. Die Karte trägt den Titel „Trennung“. Besonders diese Passage liest er immer wieder: „Man muss sich hüten, in den Erinnerungen zu wühlen, sich ihnen auszuliefern, wie man auch ein kostbares Geschenk nicht immerfort betrachtet, sondern nur zu besonderen Stunden und es sonst wie einen verborgenen Schatz besitzt.“ Und nur so, schreibt der evangelische Theologe Bonhoeffer, nur so „geht eine dauernde Freude und Kraft von dem Vergangenen aus“.

Da ist etwas dran, denkt Carl. In den ersten Wochen hat er sich ständig Fotos von Marie angeschaut. Fotos von ihr, von Ausflügen und gemeinsamen Reisen, Handy-Videos von Familienfeiern mit den Kindern. Carl wurde immer trauriger, wenn er die Bilder und Filme gesehen hat. Immer wieder hat er in den Erinnerungen gewühlt - wie Bonhoeffer es beschreibt. Und jedes Mal ist der Schmerz stärker geworden: Alles ist vorbei. Das viele Alleinsein und in der Vergangenheit Leben tut ihm nicht gut.

Ganz langsam begreift er, dass er wirklich Abschied nehmen muss. Marie kommt nicht wieder. Carl muss ohne sie leben. Zum Glück hat Carl gute Freunde und Nachbarn. Sie laden ihn ein. Sie hören ihm zu und ermuntern ihn zu Ausflügen. Carl beschließt, sich neue Aufgaben zu suchen. Er meldet sich zu einem Volkshochschulkurs an und beginnt, Spanisch zu lernen. Ein Freund gewinnt ihn dafür, ihm einmal die Woche beim Handballtraining der Jugendlichen zu unterstützen.

Carl tut es gut, sich abzulenken.

Mit der Zeit spürt er: In seinem Herzen trägt er die schöne Zeit mit Marie nicht ständig wie einen Stachel in sich, sondern immer mehr wie einen Schatz. Er schaut sich auch jetzt noch Bilder von Marie und ihren gemeinsamen Erlebnissen an, auch zusammen mit den Kindern und mit Freunden. Aber nicht mehr jeden Tag. Die Fotos werden für ihn wie ein kostbares Geschenk, das er nur zu besonderen Stunden herausholt. Die Trauer ist nach wie vor da. Aber Carl spürt, wie auch Freude und Kraft vom vergangenen gemeinsamen Leben ausgehen.

Nach und nach kann er auch besser mit dem leben, was er Marie schuldig geblieben ist. Als er noch ständig in den Erinnerungen wühlte, fielen ihm viele Situationen ein, die nicht gut waren. Vielleicht hätte er Marie noch öfter sagen sollen, wie sehr er sie liebt. Vielleicht hätte er ihr manchmal mehr zuhören oder seine schlechte Laune nicht an ihr auslassen sollen. Und Marie? Sie ist ihm ebenfalls manches schuldig geblieben. Aber auch da lernt er, eine Balance zu finden zwischen Ablenkung und Erinnerung. Ihre gemeinsame Zeit und Liebe sind ein Schatz, den er in sich trägt - wie ein kostbares Geschenk.

Der Tod von Marie macht Carl klar: Ich schöpfe nie alle meine Lebensmöglichkeiten voll aus.

Carl hat erlebt, wie schnell sich alles ändern kann. Und dass man darauf keinen Einfluss hat.

Carl nimmt sich vor, bewusster jeden Tag zu leben. Er will seinen großen Kindern ein guter Vater sein, auch ohne Marie. Er will weiter mit Freude die Jugendlichen im Handball trainieren. Und dabei im Blick behalten: Nichts ist selbstverständlich.

Ob Carl seine Einstellung auch mit dem Glauben an Gott verbindet, weiß ich nicht.

Ich finde diese Haltung zum Leben in der Bibel: Nichts ist selbstverständlich. Alles Leben ist Geschenk. Mir hilft der Gedanke, dass mein Leben von Gott her kommt und mit Gott in Verbindung ist. In der Bibel steht in einem Psalm: „Meine Zeit steht in Gottes Händen.“ (Psalm 31,16)

Das ermutigt mich, mein Leben zu gestalten. Gott hält mein Leben in der Hand und die Zeit, die mir zur Verfügung steht. Ich verstehe meine Lebenszeit als ein Geschenk. Deshalb möchte ich meine Zeit verantwortlich gestalten - für die Menschen, die mir anvertraut sind, und für mich selbst.

Ich möchte jeden Tag bewusst leben und nicht ständig alle Termine nur abarbeiten. Joggen oder Rad fahren sind da für mich eine Unterbrechung, bei der ich spüre: Es gibt mehr. Lebensqualität bedeutet außerdem für mich, dass ich nicht nur für mich und meine Familie lebe, sondern darüber hinaus für andere da sein kann. Ich helfe einer Afrikanerin beim Deutsch lernen und schaue in meinem Umfeld, wer meine Unterstützung braucht.

Dass ein geliebter Mensch plötzlich stirbt, das kennen viele und das habe ich auch erlebt. Darumgeht eines meiner Gebete so: „Gott, halte mein Leben in der Hand. Lass mich das Schöne und Gute genießen und gib mir Kraft, Schweres zu tragen und anzunehmen.“

Carl, dessen Frau Marie so plötzlich gestorben ist, hat neun Monate nach ihrem Tod Folgendes erlebt. Er fährt mit dem Bus zum Friedhof. In seinem Arm hält er einen Blumenstrauß. Die junge Frau ihm gegenüber kann ihren Blick nicht von den Blumen lassen.

Kurz vor der nächsten Haltestelle steht Carl auf und wendet sich zu der Frau. Er fragt sie: „Gefällt Ihnen der Strauß?“ Sie nickt verdutzt. Da reicht Carl ihr die Blumen und sagt: „Er ist eigentlich für meine Frau. Aber ich denke, sie hätte gern, dass Sie ihn bekommen. Ich gehe jetzt zu ihr und erzähle ihr, dass ich die Blumen Ihnen geschenkt habe.“

Die junge Frau nimmt die Blumen, etwas erstaunt. Vielleicht hat sie gedacht: Mann, muss der ´ne tolerante Frau haben. Carl geht zu Maries Grab - ohne Blumen. Aber mit einem Lächeln.

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