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Wunder des Zuhörens

Wunder des Zuhörens

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Ingrid Müller – ich nenne sie jetzt mal so – ist Anfang achtzig. Mehr weiß ich nicht, als ich bei ihr vor der Tür stehe, um sie zu besuchen. Eine zierliche Frau öffnet. Gebückt steht sie vor mir. Sie wirkt krank, und das ist sie auch. Kaum sitze ich, fängt sie schon an zu erzählen, was sie gerade alles plagt: Kreislaufbeschwerden, Rheuma, Herzrhythmusstörungen. Die Liste hört gar nicht auf. Sie weiß nicht, ob sie noch lange so leben kann, ohne Hilfe von außen. „Ich kann nicht mehr“, sagt sie und lässt die Schultern hängen.

Dann erzählt Ingrid Müller aus ihrem Leben. Der Vater blieb im Krieg, die Mutter ist früh gestorben. Schnell stand sie allein da. Dann machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie war alleinerziehend und kam immer nur knapp über die Runden. Ihre Tochter ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Vor zwanzig Jahren.

Was für ein Leben! Traurig und voller Entbehrungen. Und trotzdem sagt Ingrid Müller immer wieder: „Mein Glaube hat mir geholfen. Jesus hat mich da irgendwie durchgetragen.“ Je mehr sie erzählt, desto mehr weicht die Traurigkeit. Nachdem die Tochter aus dem Haus war, wurde Ingrid Müller wieder Krankenschwester – eine echte Berufung. Sie hat für die Patienten oft Kuchen gebacken und setzt sich auch nach Dienstschluss lange ans Krankenbett. An die Zeit erinnert sie sich gern. Sie sitzt ganz aufrecht da. Ihre Miene hellt sich auf, sie gestikuliert auch mit den Händen.

Ingrid Müller – eine aktive Frau, die gern geholfen hat. Jetzt kann sie es nicht mehr. Aber sie hat ihr privates Hilfenetz. Eine Nachbarin fährt noch Auto und nimmt sie einmal in der Woche mit zum Einkaufen. Und das türkische Ehepaar von gegenüber geht mit ihr auf den Friedhof zum Grab der Tochter. Da betet Ingrid Müller immer das Vaterunser. Sie sagt: „Und stellen Sie sich vor, meine türkischen Nachbarn falten dann auch die Hände und beten mit.“

Jetzt ist sie in einer ganz anderen Stimmung als am Anfang des Gesprächs. Sie kreist nicht mehr um ihre Grenzen und um ihre Schicksalsschläge. Ich wundere mich, was da in ihr passiert ist. Die Situation ist ja jetzt nicht plötzlich besser als vorher. Aber ich glaube: Es tat ihr gut, alles auszusprechen, was sie bewegt, und dass ihr jemand zuhört und Zeit hat.

Plötzlich schaut Ingrid Müller mich genauer an und entdeckt, dass ich eine wunde Nase von einer Erkältung habe. Ihre Kompetenz als Krankenschwester ist gefragt. „Ich empfehle Ihnen Ringelblumensalbe, einmal täglich einreiben“, sagt sie, kramt in ihrer Tasche und überreicht mir eine frische Tube. Ihr Blick ist nicht mehr bei sich selbst, sondern bei mir. Sie ist stolz, dass sie jetzt etwas für mich tun kann.

Kurz danach verabschiede ich mich. Das Gespräch hat auch mich irgendwie froh gemacht. Ich frage mich, warum. Vielleicht, weil ich mich zur richtigen Zeit am richtigen Ort gefühlt habe, obwohl ich einfach nur zugehört habe. Eine starke Erfahrung, dass Zuhören so viel auslösen kann. Ein kleines Wunderwerk Gottes. Für beide Seiten.

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