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Die Wahrheit, sie ist jung und schön
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Die Wahrheit, sie ist jung und schön

Dr. Sabine Gahler
Ein Beitrag von Dr. Sabine Gahler, Pastoralreferentin im Katholischen Bildungszentrum nr30, Darmstadt
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Ist es immer gut, wenn man die Wahrheit weiß? Man soll doch auch immer die Wahrheit sagen. Ist es gut, die Wahrheit ungeschönt zum Ausdruck zu bringen?
Wahrheit kann guttun. Wahrheit kann aber auch unglaublich verletzen. Selbst wenn ich versuche, sie liebevoll auszusprechen.
Es kann zum Beispiel ganz schön schwer sein, die Wahrheit von seinem Arzt zu hören. Oder nach einer langen Beziehung von dem geliebten Menschen die Wahrheit an den Kopf geworfen zu bekommen. Die Wahrheit kann enttäuschen. Und manchmal täuscht die Wahrheit. Und es gibt doch auch verschiedene Wahrheiten. Und manchmal ist die Wahrheit nicht wahr.
Davon erzählt eine Geschichte, die ich vor Kurzem gelesen habe und sehr eindrucksvoll finde. Die Geschichte geht so:
„Es war einmal ein Mann, der die Wahrheit finden wollte. Er verkaufte alles, was er besaß, und machte sich auf einen langen und einsamen Weg. Er suchte Tage und Wochen und Monate. Und eines Tages fand er sie in einer Höhle auf einem hohen Berg. „Die Wahrheit war eine schrumpelige, alte Frau mit nur noch einem Zahn in ihrem Mund. Ihr Haar hing ihr in langen Strähnen über die Schultern. Ihre Haut im Gesicht war so braun und trocken wie altes Pergament, das über hervorstehende Knochen gezogen war. Doch als sie ihm mit ihrer alternden Hand ein Zeichen gab und zu ihm sprach, war ihre Stimme so gefühlvoll und rein, und da wusste der Mann, er hatte die Wahrheit gefunden. Er blieb ein Jahr und einen Tag bei ihr, und er lernte alles, was sie ihn lehren konnte. Als ein Jahr und ein Tag vergangen waren, stand er am Eingang der Höhle, bereit sich zu verabschieden und zurück nach Hause zu kehren. „Meine Offenbarung der Wahrheit“, sagte er, „du hast mich so vieles gelehrt, und bevor ich dich verlasse, möchte ich etwas für dich tun. Gibt es etwas, was du dir wünschst?“ Die Wahrheit legte den Kopf zur Seite und dachte nach. Dann hob sie ihren uralten Finger in die Höhe. „Wenn du von mir sprichst“, sagte sie, „erzähl ihnen, ich sei jung und schön.“
Ich verstehe diese Geschichte so: Vielleicht ist es nicht immer hilfreich, die ungeschönte Wahrheit zu sagen. Damit meine ich nicht, ich soll lieber lügen, weil die Wahrheit hässlich ist. Ich meine, es ist eine Frage, wie ich einem anderen Menschen die Wahrheit sage. In der Geschichte erkennt der Mann, die Wahrheit an der Stimme der alten Frau. Es heißt da: „... als sie zu ihm sprach, war ihre Stimme ... gefühlvoll und rein“. Daran hat er die Wahrheit erkannt.
Wenn ich jemandem die Wahrheit an den Kopf werfe, will ich verletzen. Dann ist die Wahrheit hässlich. Manchmal ist die Wahrheit auch nicht schön. Zum Beispiel, wenn ein Arzt mir sagt, dass ich an einer ernsten Krankheit leide. Es kommt darauf an, wie mir die Wahrheit gesagt wird. „Wenn du von mir sprichst, ... erzähl ihnen, ich sei jung und schön“. Ich verstehe das so: Sag die Wahrheit gefühlvoll. Achte auf deine Worte und deinen Ton. Ich finde das nicht immer leicht. Ich will mich darum aber immer neu bemühen.

 

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