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Das verlorene Stück Seele
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Das verlorene Stück Seele

Stephan Krebs
Ein Beitrag von Stephan Krebs, Evangelischer Pfarrer, Langen

Musik: „The River of Dreams“ von Billy Joel 

Inzwischen ist Billy Joel ein eleganter älterer Herr. 69 Lebensjahre liegen hinter ihm, intensiv in vielerlei Hinsicht. Viermal war er verheiratet. Mehrmals kämpfte er in Kliniken gegen Drogensucht und Depressionen. Seit Jahrzehnten ist Billy Joel einer der erfolgreichsten Popmusiker, ein Kulturschaffender von Weltrang. Manche Songs kennt vermutlich jeder, zum Beispiel „The River of Dreams“.

Gerade für den heutigen Tag finde ich ihn besonders interessant, denn heute, am ersten Sonntag im September, ist der Europäische Gedenktag der jüdischen Kultur. Viele Fans wissen gar nicht, dass Billy Joel Jude ist – und dass er dazu noch deutsche Wurzeln hat. Sein Vater hieß Helmut Joel und stammte aus Nürnberg. 1938 floh er vor den Nazis in die USA und heiratete dort eine Jüdin aus England. Die beiden bekamen zwei Kinder. Das jüngere war Billy. Er kam 1949 in New York zur Welt. Gerade mal fünf Jahre zuvor waren in Auschwitz und anderswo noch viele Juden ermordet worden. Das ist Billy Joel sehr bewusst. Dennoch ist er gerne in Deutschland, fühlt sich hier wohl. Sein Halbbruder Alexander Joel ist hier ein renommierter Dirigent, zuletzt in Braunschweig.
Spannend ist, wie es Billy Joel mit der Religion hält. Wie gesagt, er ist ein gebürtiger Jude, sein Familienname stammt sogar von einem biblischen Propheten: Joel. Als Kind verbrachte Billy allerdings viel Zeit in einer katholischen Gemeinde. Zeitweilig fühlte er sich auch in einer evangelischen Kirche heimisch. Dort ließ er sich auch mit elf Jahren taufen. Heute bezeichnet er sich selbst als kulturellen Juden, als nicht-religiös. So vereint Billy Joel in sich drei Traditionen. Er ist Jude, Christ und Atheist – in seiner Person fließt vieles zusammen, so ist es ja auch in der westlichen Kultur insgesamt.
In seinen Songs macht sich Billy Joel oft auf die Suche nach dem Sinn und dem Ziel des Lebens. Einer dieser Songs ist „The River of Dreams“, also „Der Fluss der Träume“. Darin geht es um die großen Sehnsüchte der Menschheit: Heimat, Freiheit und ewiges Leben. Der Song nimmt einen mit an einen großen Fluss. Es ist mitten in der Nacht. Alles ist dunkel, auch das Wasser. Man hört es eher vorbeifließen, als dass man es sieht. Billy Joel steht am Fluss und schaut hinüber zum anderen Ufer. In der Dunkelheit ist es nur schemenhaft zu erahnen, es wirkt aber verheißungsvoll, er möchte hinüber. Vielleicht ist dort ja zu finden, wonach er schon immer gesucht hat. Doch leider ist der Fluss zu breit.

Mitten in der Nacht gehe ich im Schlaf los von den Bergen des Glaubens hin zum Fluss, der so tief ist. Ich muss nach etwas suchen. Etwas Heiliges, das ich verloren habe. Aber der Fluss ist breit und es ist zu schwer, ihn zu überqueren.

Der Song hat ein sehr ernsthaftes Thema. Erstaunlich deshalb, wie er klingt: Eher wie ein flotter Sommerhit, in der Tradition der Gospel, die schon immer Lebensfreude und Ernst miteinander verknüpft haben. Sie laden ein, mit zu machen. In diesem Fall auch mit zu suchen, denn darum geht es. Billy Joel sucht nach sich selbst und nach Gott. Dabei greift er – der Jude, der Christ und der Atheist – auf Bilder aus der Bibel zurück. Bilder, die jeder kennt, denn sie zählen zum kulturellen Reichtum der Menschheit. Sie schüren Hoffnung und machen Mut.
Das erste dieser großen biblischen Bilder ist der Aufbruch in die Freiheit. „Mitten in der Nacht gehe ich los“, singt Billy Joel und erinnert damit an den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Dort waren sie Sklaven. Nun ziehen sie hinaus in die Freiheit. Im Namen Gottes wagen sie den Aufbruch ins Ungewisse, im Vertrauen auf Gott ziehen sie in die Wüste auf einen Weg voller Gefahren.
Dieser nächtliche Aufbruch, der Exodus, ist zu einem geradezu sprichwörtlichen Hoffnungsbild geworden. Er hat schon vielen Menschen, die sich nach Freiheit sehnen, Mut zur Flucht gemacht. Zu ihnen zählten einst auch die Sklaven in den USA. Ihre Lieder, die Gospel, handeln oft von diesem Exodus, vom Aufbruch aus der Sklaverei. Einer der bekanntesten Gospel heißt: Wade in the Water – Wate in den Fluss. Er ist eine Anleitung zur Flucht. Denn viele Sklaven wateten auf ihrer Flucht am Ufer von Flüssen entlang, um keine Spuren zu hinterlassen. Oder sie schwammen durch Flüsse, weil ihnen am anderen Ufer die Freiheit winkte. Das lässt Billy Joel mitschwingen, wenn er vom Fluss der Träume singt.
Dann greift er weitere Bilder der Hoffnung aus der Bibel auf. In der zweiten Strophe ist vom finsteren Tal der Angst die Rede. Da klingt der Psalm 23 an, den viele kennen: „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück.“ Diese Psalm-Verse tragen eine tiefe Gelassenheit in sich, ein unerschütterliches Vertrauen in Gott. Davon singt Billy Joel und es scheint so, als sehne er, der selbsterklärte Atheist, sich genau danach.

Mitten in der Nacht gehe ich im Schlaf los durch das Tal der Angst zu einem Fluss, der so tief ist. Ich suche nach etwas, das mir aus der Seele genommen wurde. Etwas, das ich nie verlieren würde. Etwas, das mir jemand gestohlen hat.

In dem Song offenbart Billy Joel seine große seelische Not. Er hat etwas verloren, das er nicht hätte verlieren dürfen. Etwas Heiliges: Ein Stück seiner Seele. Er muss es wieder finden, um die Bruchstücke seines Lebens zusammen fügen zu können. Ein starkes Bild, das mich tief berührt: Eine beschädigte Seele, aus der ein Stück herausgebrochen ist und verloren ging. So wird das Leben zur Suche nach dem fehlenden Teil. Dieses Bild führt zum Zentrum von Religion: Glauben entsteht, wo sich jemand danach sehnt, wieder vollständig und heil zu werden, sich also mit Gott zu versöhnen.

Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Leben nach diesem gibt. Gott weiß, ich war nie ein spiritueller Mann. Aber getauft durch Feuer, wate ich in den Fluss, der in das gelobte Land führt.

Aus dieser Strophe strahlt ein weiteres Hoffnungsbild heraus: die Hoffnung auf ein Leben nach diesem. Billy Joel lokalisiert es auf der anderen Seite des Flusses. Zwar ist er nicht sicher, ob es das wirklich gibt. Aber offenbar hofft er es, denn er geht los. Er watet in das Wasser hinein, um es zu erreichen. Kann man der Bibel glauben, wenn sie Hoffnung macht auf ein besseres Leben, sogar ein Leben nach dem Tod? Es ist die entscheidende Hoffnung für alle, die sich nach einem heilen Leben sehnen. Denn diese Hoffnung sagt: Alles geht weiter. Alles fließt in Gottes ewiges Leben ein. Am anderen Ufer, über den Tod hinaus hat alles einen Sinn – und der umfasst und übersteigt alle Zweifel.
So watet Billy Joel in den Fluss, denn drüben lockt das gelobte Land. Da kommen sie wieder in den Blick, die Israeliten, die durch die Wüste ziehen. Hinter ihnen liegt die Knechtschaft in Ägypten. Und vor ihnen? Ein Fluss – der Jordan. Und auf der anderen Seite sehen sie das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen. Ein Paradies, wenn man aus der staubigen Wüste kommt. Eine neue Heimat. Ein fester Ort, wo man gerne ist, wo man hingehört. Wo man im Einklang ist mit sich selbst und mit Gott.
„The River of Dreams“ – ist ein Song voller Bilder aus dem Hoffnungsuniversum des jüdischen und des christlichen Glaubens. Im Rhythmus eines Sommerhits zeigt Billy Joel, der gebürtige Jude, der getaufte Christ und der erklärte Atheist, wie eng der jüdische, der christliche Glauben und der atheistische Zweifel miteinander verwoben sind. Deutlich wird auch, wie eng Kultur und Glauben zusammenhängen. Jüdische, christliche und andere Bilder bilden zusammen einen großen Schatz der Hoffnung.
Das übersieht man leicht angesichts der heiklen Themen, die sich mit der jüdischen Kultur verbinden: Da ist das Erinnern an den massenhaften Mord an Juden durch Nazi-Deutschland. Da sind die gewalttätigen Übergriffe auf Menschen jüdischer Prägung heute. Und natürlich auch das ungelöste Drama zwischen Israelis und Palästinensern im Nahen Osten.
Das ist aber nicht alles. Zum Glück. Daneben gibt es einen großen gemeinsamen Schatz an Hoffnungsbildern für das brüchige Leben.

BILLY JOEL: THE RIVER OF DREAMS SONGTEXT

In the middle of the night I go walking in my sleep from the mountains of faith to the river so deep. I must be looking for something. Something sacred I lost. But the river is wide and it’s too hard to cross.
Even though I know the river is wide I walk down every evening and I stand on the shore. I try to cross to the opposite side. So I can finally find out what I’ve been looking for.
In the middle of the night I go walking in my sleep through the valley of fear to a river so deep. I’ve been searching for something taken out of my soul. Something I’d never lose. Something somebody stole.
I don’t know why I go walking at night. But now I’m tired and I don’t want to walk anymore. I hope it doesn’t take the rest of my life until I find what it is that I’ve been looking for.
In the middle of the night I go walking in my sleep, through the jungle of doubt to the river so deep. I know I’m searching for something. Something so undefined that it can only be seen by the eyes of the blind. In the middle of the night.
I’m not sure about a life after this. God knows I’ve never been a spiritual man. Baptized by the fire I wade into the river that is running to the promised land.
In the middle of the night I go walking in my sleep through the desert of truth to the river so deep. We all end in the ocean. We all start in the streams. We’re all carried along by the river of dreams. In the middle of the night.
I go walking in the middle of the…

Mitten in der Nacht gehe ich im Schlaf los von den Bergen des Glaubens zu dem Fluss, der so tief ist. Ich muss nach etwas suchen. Etwas Heiliges, das ich verloren habe. Aber der Fluss ist breit und es ist zu schwer, ihn zu überqueren.
Aber obwohl ich weiß, dass der Fluss breit ist, gehe ich jeden Abend hinunter und steh am Ufer. Ich versuche auf die gegenüber liegende Seite zu gelangen. Damit ich endlich herausfinden kann, was ich schon so lange suche.
Mitten in der Nacht gehe ich im Schlaf los durch das Tal der Angst zu einem Fluss, der so tief ist. Ich suche nach etwas, das mir aus der Seele genommen wurde. Etwas, das ich nie verlieren würde. Etwas, das mir jemand gestohlen hat.
Ich weiß nicht, warum ich nachts gehe. Aber jetzt bin ich müde und will nicht mehr laufen. Ich hoffe, es dauert nicht den Rest meines Lebens, bis ich herausfinde, was es ist, das ich schon so lange suche.
Mitten in der Nacht gehe ich im Schlaf los durch den Dschungel des Zweifels zu dem Fluss, der so tief ist. Ich weiß, dass ich nach etwas suche, etwas so unklares, dass man es nur durch die Augen der Blinden sehen kann. In der Mitte der Nacht.
Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Leben nach diesem gibt. Gott weiß, ich war nie ein spiritueller Mann. Aber getauft durch Feuer, wate ich in den Fluss, der in das gelobte Land führt.
Mitten in der Nacht gehe ich im Schlaf los durch die Wüste der Wahrheit zu dem Fluss, der so tief ist. Wir alle enden im Ozean. Wir alle beginnen in fließenden Wassern. Wir werden alle weiter getragen vom Fluss der Träume. Mitten in der Nacht.
Ich gehe los mitten in der …
 

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