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Anfangsgeschichten
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Anfangsgeschichten

Beate Hirt
Ein Beitrag von Beate Hirt, Senderbeauftragte der katholischen Kirche beim hr, Frankfurt

Einen Zauber: den hat so ein Neujahrstag und ein Neuanfang noch immer für mich. Dabei gab es doch mittlerweile schon etliche Jahresanfänge, und längst ist mir klar: Ganz neu starte ich nie. So viele Geschichten und Gewohnheiten nehme ich mit. Und außerdem: Der Kalender für 2018 ist ja längst nicht mehr leer, sondern gut gefüllt. Vieles geht eben einfach weiter, same procedure als last year. Mehr Übergang als Anfang ist eigentlich angesagt am 1. Januar. Und doch: Irgendeinen Zauber, den hat dieser Start in ein neues Jahr für mich immer noch – und wohl für viele.  Mehr als sonst schauen wir heute in die Zukunft. Was wird kommen? Was und wer wird wichtig werden? Was wird in Erfüllung gehen, an Ängsten oder an Sehnsüchten? Am Anfang ist alles möglich. Und ich kann mir auch alles vornehmen – nun ja, vieles zumindest. Weil es der Anfang ist, weil alle zusammen in diesen Tagen wieder neu starten – deswegen wohl haben viele auch ein Quäntchen mehr Energie und Lust, neu zu beginnen. In mancherlei Hinsicht etwas zu wagen, zu verändern, neu auszuprobieren. Im Anfang, da liegt etwas Besonderes, etwas Prickelndes, etwas Bezauberndes. Über diesen Zauber des Anfangs möchte ich heute sprechen in der Morgenfeier in hr2-kultur.

Musikalisch starten möchte ich mit einer Vertonung des allerersten Anfangs der Bibel: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Das singt hier auf Hebräisch die große israelische Sängerin Achinoam Nini.

Geschichten vom Anfang sind oft voller Zauber, in der Bibel und in der Menschheitsgeschichte – aber auch in der Geschichte jedes Menschen heute. Weißt du noch damals? Das fragen wir uns manchmal gegenseitig, und wir können uns die Geschichten vom Anfang immer wieder erzählen. Die von der ersten Begegnung im Studium mit der Freundin, mit der man seitdem durch dick und dünn geht. Die vom ersten Kuss mit dem Mann, den man liebt. Oder natürlich: Die vom ersten Schrei eines Kindes, vom Anfang eines ganzen Menschenlebens. Vielleicht ist deswegen auch Weihnachten ein so besonderes Fest: Weil da eine Geburt gefeiert wird, weil so viele Menschen auf der ganzen Welt einen Anfang feiern, die Geburt des Gottessohnes, einen Anfang ganz besonderer Art. „Mit der Geburt Jesu war es so,“ so fängt das Evangelium in der Heiligen Nacht an.
Die Bibel hat noch viel mehr solcher Geschichten, sie liebt diese Anfangs-Geschichten, und ganz besonders ist auch die vom allerersten Anfang der Welt, von der wir vorhin schon eine Vertonung gehört haben.. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Genesis 1,1), heißt es im Buch Genesis oder ersten Buch Mose, auf der ersten Seite der Bibel und der jüdischen Thora. Ein kunstvoll gestaltetes Lied beginnt damit, in sieben Strophen, sogar einen Refrain hat es: Es wurde Abend, und es wurde Morgen: erster Tag, zweiter Tag, dritter Tag, vierter Tag, fünfter Tag, sechster Tag, siebter Tag. Und dann der große Höhepunkt, am Ende dieses Liedes: vom Anfang. „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war gut.“ (Gen 1,31) Bei allem, was diese Welt und nicht zuletzt: diese Menschen noch an Schwierigkeiten mit sich bringen werden, bei allem,  was sie in Schwierigkeiten bringen wird: Der Anfang ist nicht übel, der Anfang ist nicht Sünde. Der Anfang lautet: Siehe, es war sehr gut!

Diese Zusage Gottes von Anfang an: Das ist das Wichtigste an dieser Geschichte am Anfang der Bibel. Die Schöpfungsgeschichte will ja keine Erklärung liefern über die Entstehung der Welt und der Arten. Sie will nicht wissenschaftlich genau aufdröseln, was damals genau geschah. Das wollen Anfangs-Geschichten ja in den seltensten Fällen. Sie wollen erzählen, wie was mit wem begann. Auch eben dieser Anfang der Bibel will das. Er will ein Loblied singen auf die Schöpfung und auf denjenigen, der die Welt geschaffen hat und in Händen hält. Er will den Zauber des Anfangs in Erinnerung rufen. Und mit diesem Anfang auch Mut machen für alles, was daran anschließt, was noch kommen mag.

Eine weitere Vertonung dieses biblischen Anfangs möchte ich zu Gehör bringen, ganz anders als die erste: Sie stammt von Günter Bialas, einem Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Es gehört zum Leben dazu, sich die Geschichten vom Anfang zu erzählen, sich an sie zu erinnern. Und diese Geschichten werden interessanterweise gerade dann besonders wichtig, wenn es wieder daran geht, einen neuen Anfang zu wagen. Wenn wir neu aufbrechen: Dann ist es gut, sich die alten Anfangs-Geschichten zu erzählen. Sich dieser Anfänge zu vergewissern. Weil sie eben auch unser Fundament sind, auf dem wir stehen. Wenn ich mich erinnere, wer ich bin, woher ich komme. Wenn ich mich erinnere, wer mich liebt und wen ich liebe: Dann ist es leichter, auf Neues zuzugehen, nächste Schritte zu tun. Dann kann ich einen Aufbruch wagen. Mit den alten Geschichten, den alten Orten und alten Melodien, den vertrauten Gesichtern im Kopf und im Herz.

Auch am Anfang eines neuen Jahres ist mir das wichtig. Die Zeit zwischen den Jahren und Anfang Januar: Die ist eine gute Zeit, um noch einmal den Kalender vom letzten Jahr durchzublättern oder meine Adressliste. Und die Namen der Menschen ganz bewusst wahrzunehmen, denen ich begegnet bin und die mir etwas bedeuten. Ich freu mich drauf, die freien Tage zwischen den Jahren dazu zu nutzen, endlich mal wieder Kontakt aufzunehmen mit dem einen oder der anderen.

Ich merke dabei: Ohne vertraute Namen möchte ich nicht ins neue Jahr starten. Ich brauche gewohnte und verlässliche Menschen neben mir. Auch, um im neuen Jahr neue Dinge und Projekte starten zu können. Ich brauche zum Beispiel die guten Kollegen, um ein neue Idee im Beruf umzusetzen. Und ich verlasse mich auf meine Familie, wenn ich privat etwas neu anfange, auch auf Freundinnen und Freunde, die ich oft schon so lange und so gut kenne. Für mich hat diese Vergewisserung am Anfang eines Jahres auch etwas mit Selbsterkenntnis und Demut zu tun: Ich bin nicht so perfekt, dass ich etwas Neues völlig aus mir allein heraus und ohne irgendwelche Unterstützung stemmen kann. Nur Gott hat Neues aus dem Nichts erschaffen. Ich kann Neues nur schaffen, wenn ich auf das aufbaue, was ich schon habe. Ich will und kann mich auf andere verlassen, wenn ich etwas neu starte. Es ist für mich auch ganz stark dieses Miteinander, dieses Gemeinsame, was den Anfang leichter macht. Was ihm seinen Zauber gibt, was hilft, zu leben und weiterzugehen und immer wieder einen Anfang zu riskieren.

Und dann ist da noch einer, den ich bei Anfängen nicht missen möchte. Dessen Name nicht in meiner Adressliste steht und der trotzdem zu denen gehört, ohne die ich nicht starten will im neuen Jahr. Gott ist immer dabei bei meinen Anfängen, und das ist gut zu wissen. Mit einem verlässlichen, einem starken, einem tröstenden Gott an der Seite: mit dem ist vieles möglich. Verrückte Dinge, große Anfänge.

Dieser Gott: Der wird auch in Günter Bialas Komposition vom Anfang gepriesen.

Die Bibel erzählt auch Geschichten von verrückten Neuanfängen. Allen voran die von Abraham, dem Urvater des Glaubens, sie spielt vor fast dreitausend Jahren. „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in ein Land, das ich dir zeigen werde!“ (Genesis 12, 1) So heißt es im Buch Genesis, im ersten Buch Mose. Was für eine Zumutung, was für ein Risiko! Alles zurücklassen soll Abraham, alles, was er kennt und worin er sich auskennt – und etwas ganz Neues beginnen, in ein unbekanntes Land ziehen. Ein Anfang ist das ganz bestimmt auch mit Ängsten, mit Ängsten, wie sie viele kennen: Mein Gott, wie soll das alles werden, wie soll ich das schaffen? Warum hab ich mich denn überhaupt darauf eingelassen? Das ist doch Irrsinn, so etwas überhaupt wagen zu wollen.

Da baut eine Familie ein Haus – und es ist einfach so viel zu organisieren und zu entscheiden, dass man manchmal nachts kaum noch schlafen kann vor lauter Sorgen. Ob die Finanzierung klappen wird? Ob die Entscheidungen richtig sind: für diese Fliesen, dieses Dach, diese Tür? Manchmal ist all das so viel, dass man denkt, man schafft es nicht. Oder man tritt eine neue Stelle an oder eine neue Aufgabe im Job kommt dazu. Ein Anfang, der schwer ist, weil man es gleich ganz richtig machen will oder vielleicht auch, weil man denkt, man muss es gleich richtig machen. Es gibt viele Anfänge, die Angst machen, die Mühe und Anstrengung kosten. Vom Zauber des Anfangs ist da erst mal wenig zu spüren. Und man möchte manchmal gar nicht den nächsten Schritt tun oder eben überhaupt: aufbrechen, losgehen.

Vielleicht hat sich auch dieser Abraham damals erst mal gedacht: Ohje, lass mich doch bitte zuhause bleiben, lieber Gott, in meiner gewohnten Umgebung, aller Anfang ist schwer und hier geht’s mir gerade doch ganz gut. Aber dann bricht er doch auf. Riskiert es, folgt diesem großem Auftrag, der vielleicht ein bisschen verrückt klingt: „Zieh weg aus deinem Land, in ein Land, das ich dir zeigen werde!“ Denn: Abraham bekommt von Gott nicht nur diesen Auftrag. Er bekommt auch eine Zusage. „Ich bin der ich bin da. Ich bin bei dir, und ich werde dich segnen und deinen Namen groß machen.“ (vgl. Genesis 12,2) Das lässt Gott den Abraham wissen und spüren. Und Abraham zieht los, gestärkt und ermutigt und im Vertrauen auf diesen Gott, seine Nähe, seinen Zuspruch, seinen Segen.

Ich mag diese Anfangsgeschichte des Abraham, ich lese und höre sie immer wieder gerne, sie hat wirklich auch einen Zauber für mich. Ich spüre Gott nicht immer so deutlich wie der alte Abraham, wenn ich vor Anfänge stehe. Aber er erinnert mich daran: Gott ist da, um mir meine Anfänge leichter zu machen. Er ist auch einer, dem ich die Ängste gestehen kann, die ich sonst kaum jemandem gestehen kann. Und manchmal schafft er es, diese Ängste auf zauberhafte Weise kleiner werden oder gar ganz verschwinden zu lassen.

Die Geschichte von Abraham und seinem Aufbruch aus der Heimat: Sie ist für mich aber auch noch auf andere Weise eine ganz besondere Anfangsgeschichte. Und das wird mir mit den Jahren und den vielen Jahresanfängen immer wichtiger. Abraham, so erzählt nämlich die Bibel, war kein dynamischer Mittzwanziger, als er auswanderte, keiner, für den das Leben voller Abenteuer war und der womöglich gerade sowieso Lust hatte auf ein neues Leben irgendwo anders. In der Bibel heißt es lapidar: „Abraham war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran fortzog.“ Fünfundsiebzig Jahre. Da bekommt einer also nicht nur einen etwas verrückten Auftrag, er bekommt ihn auch noch zu einer Zeit, in der man auf verrückte Neuanfänge in der Regel eigentlich nun wirklich keine große Lust mehr hat. Wenn heute jemand mit fündundsechzig für die Rente noch einmal ganz woanders hinzieht, wenn sich eine mit siebzig verliebt: Dann kommt man ins Staunen. Aber mit fünfundsiebzig auswandern, durch Wüsten ziehn? Das klingt gleich noch ein bisschen verrückter.

Aber es stecken natürlich eine Wahrheit und ein Zauber auch in diesem Teil der Geschichte. Sie lauten: Zum Anfangen ist es nie zu spät. Anfangen geht immer. Es kommt nicht der Moment, in dem ich zu Anfang eines neuen Jahres sagen kann: Und nun darf alles beim Alten bleiben. Ich hab alles, was ich will, ich weiß alles, was ich will, ich muss nichts mehr neu beginnen. Vielleicht werden die großen Anfänge seltener, aber sie dürfen vorkommen. Ich darf Dinge ändern, soll Neues versuchen, auch wenn ich die vierzig, die sechzig, die achtzig überschritten habe. Und ich darf und soll damit rechnen, dass andere sich verändern, dass es Neuanfänge um mich herum gibt. Das ist manchmal schwer, aber oft auch eine wunderbare Chance. Die Bibel und die Heiligen sprechen immer wieder davon: Für einen neuen Aufbruch, ja für die Sehnsucht nach Leben und Liebe und auch für den Glauben ist es nie zu spät. Der heilige Franz von Assisi hat den Zauber des Anfangs wohl sogar noch auf dem Sterbebett gespürt. Man erzählt sich, er habe im Sterben gerufen: „Brüder, lasst uns endlich anfangen!“

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