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Suche den Frieden und jage ihm nach
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Suche den Frieden und jage ihm nach

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt
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Musik: Nicole: Ein bisschen Frieden

Ein bisschen Frieden. 1982 erreichte die 17-jährige Sängerin Nicole mit diesem Lied beim Eurovision Song Contest im englischen Harrogate den ersten Platz. Auf einem Hocker sitzend, spielte sie auf einer weißen Gitarre, hinter ihr ein Orchester in weißen Anzügen auf weißen Instrumenten. Perfekte Inszenierung: Weiß ist die Farbe des Friedens. Allein neun Länder vergaben die höchste Punktzahl. In Deutschland war das Lied fünf Wochen Nummer eins der Hitliste. Weltweit wurde die Single über fünf Millionen Mal verkauft.

Ein bisschen Frieden. Ein Ohrwurm-Refrain. Der Komponist Ralph Siegel, Vater zahlloser Nummer-Eins-Hits, erzählte später, er habe damals an die heftige Nachrüstungsdebatte und die vielen Demonstrationen gedacht, als sich Ost und West gegenseitig mit ihren tödlichen Raketenarsenalen bedrohten. Der nächste Atomkrieg hätte auf deutschem Boden stattgefunden. Vor allem aber hatte Ralph Siegel wohl eine Nase dafür, dass den meisten Menschen damals wie heute „ein bisschen Frieden“ vollkommen gereicht hätte.

Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne
Für diese Erde, auf der wir wohnen
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Freude
Ein bisschen Wärme, das wünsch’ ich mir.

Irgendwie klingt das doch vernünftig. Was sollte daran falsch sein, wenn man mit einem bisschen Frieden zufrieden ist oder ja vielleicht einfach nur seine Ruhe haben will?

Heute vor 80 Jahren, am 1. September 1939, begann mit Deutschlands Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Es wurde am Ende das fürchterlichste Blutbad in der Geschichte der Menschheit. 50 bis 60 Millionen Menschen, womöglich sogar noch mehr, verloren in unvorstellbaren Leiden ihr Leben. Jene, die diese sechs grauenvollen Jahre überlebt hatten, schworen sich: Nie wieder darf so etwas geschehen. Unmittelbar nach dem Krieg wurde eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet.

Der feierliche Schwur der Völkergemeinschaft, die 1945 die UNO gründete, ist lange her, und die UNO wurde auch nicht die Friedensstifterin, als die sie gedacht war. Hunderte von Kriegen haben seitdem in aller Welt noch einmal so viele Opfer gefordert wie der Zweite Weltkrieg selbst. Und seit einigen Jahren nimmt nationalistisches Getöse wieder bedrohlich zu, auch bei uns in Deutschland. Keiner, der hier markige Reden von deutscher Größe schwingt und Hass auf Fremde oder Flüchtlinge verbreitet oder bei Kundgebungen beklatscht, hat die Grauen des Zweiten Weltkriegs selbst erlebt. Davon wollen Viele auch gar nichts wissen. Es ist ihnen einfach gleichgültig. Aber solches Denken ist eine Bedrohung des Friedens. Nein, Frieden ist nicht selbstverständlich, es gibt ihn nicht einfach und nie auf Dauer. Darüber möchte ich in dieser Morgenfeier heute, am 1. September, mit Ihnen nachdenken.

Musik: Johann Sebastian Bach, Invention Nr. 4 D-Moll (Janine Jansen, Violine; Maxim Rysanov, Bratsche; Torleif Thedéen, Cello)

Bloß „Ein bisschen Frieden“ wünschte sich die Sängerin Nicole im Refrain ihres Hits aus dem Jahre 1982. Für viele Millionen wurde das Lied ein Ohrwurm. Und irgendwie klang das ja auch wie ein Märchen aus alter Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat. Als ob es jemals geholfen hätte, sich bequem hinzusetzen und etwas zu wünschen. „Ein bisschen Frieden, das wünsch‘ ich mir!“ Und wenn es dann nicht funktionierte mit dem Frieden, dann waren es im Zweifel immer die anderen. Bequem war und ist das und weit, weit weg vom wirklichen Leben.

Die Bibel kennt das Leben sehr viel besser und spricht zum Thema Frieden auch eine andere Sprache, etwa im 34. Psalm im Alten Testament. Er wird dem legendären König David zugeschrieben. Es heißt da: „Suche Frieden und jage ihm nach!“  Vielleicht ja die Bilanz eines langen, nachdenklichen Lebens. In der Evangelischen Kirche ist dieses Wort die Jahreslosung für das Jahr 2019, achtzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Dem Frieden nachjagen. Was für ein merkwürdiges Bild! Vielleicht muss ich mir ja wirklich eine Jagd vorstellen, früher der hohe Sport der Könige. Irgendwo im Unterholz hat sich das scheue Wild versteckt. Die Hunde nehmen die Fährte auf, es springt aus der Deckung und flüchtet, die Jäger hinterher. Die Spur verliert sich, wird wiedergefunden, das neue Versteck bietet auch keinen Schutz mehr. Wieder springt das Wild auf und verschwindet im Gestrüpp. Es kann noch lange so weiter gehen. Immer kommt etwas dazwischen.

Ist das so, das mit dem Frieden? Verschwindet er einfach wieder, wenn man doch schon glaubt, ihn sicher zu haben?

Seit 75 Jahren gab es in Deutschland keinen Krieg mehr. Etliche Generationen sind seit 1945 herangewachsen, die nichts anderes erlebt haben als Frieden. Nur sehr wenige haben geliebte Menschen in den Krieg ziehen lassen müssen, nur wenige auch Todesnachrichten von fernen Schlachtfeldern bekommen, keine Bombennächte im Luftschutzkeller erlebt, aber niemand hat Feuerstürme in ihren Städten mit zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen in den Straßen und am Ende keine Plünderungen, keine Besatzungstruppen und keine Hungerjahre. Ein Leben ohne tägliche Angst ist seit 75 Jahren bei uns selbstverständlich. Als könne es gar nicht anders sein.

Musik: Johann Eccard, Verleih uns Frieden (Bach-Chor Siegen)

Im Mai dieses Jahres hat der Spiegel-Redakteur René Pfister in einem langen, bemerkenswerten Porträt die weltpolitischen Gedanken von Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Ende ihrer Amtszeit hin beschrieben. Ihre Weltsicht ist düster. Sie glaubt, dass der Firniss der Zivilisation dünn ist. Schon mehrfach in der europäischen Geschichte haben friedliche Zeiten für ein, zwei Generationen ausgereicht, bei den Nachkommen die Erinnerung und die Lehren aus voran gegangenen fürchterlichen Kriegszeiten weitgehend zu löschen. Das Elend der Vergangenheit zählte irgendwann nicht mehr. Man glaubte es besser zu wissen als die Alten und suchte neue Auseinandersetzungen.

So begannen im 17. Jahrhundert neue Konflikte auch aus nichtigem Anlass. Zum Beispiel 1618 der 30jährige Krieg, der erste Europäische Krieg um die Vorherrschaft in Europa. Dass da Evangelische gegen Katholische kämpften, war ein Etikettenschwindel der Kriegspropaganda. Tatsächlich ging es wie immer um Land, um Reichtum und um Macht. Die Grausamkeit der Kriegsführung mit neuer Technik übertraf alle Vorstellungen. Am Ende waren die Kriegsparteien jahrelang zu erschöpft, um Frieden zu schließen. In diesem 30jährigen Inferno wurde ein Drittel der Bevölkerung im Gebiet des heutigen Deutschlands ausgelöscht. Von vielen Städten wie Magdeburg gab es nur noch Ruinen.

Nein, Frieden ist kein Besitz, dessen man sich sicher sein kann. Glaubt man dem Spiegel-Artikel, dann sieht die Bundeskanzlerin in der sich aufheizenden Vorgeschichte des Dreißigjährigen Krieges mit ständig sich steigernden Hasstiraden und gegenseitigen Drohungen viele bedrückende Parallelen zur Gegenwart.

Musik: Henryk Górecki, Symphonie Nr. 3 Op. 36 (Orquesta Filarmónica de Gran Canaria unter Adrian Leaper; Doreen de Fries, Sopran)

1. September 2019. Heute vor 80 Jahren begann Hitler-Deutschland den Zweiten Weltkrieg, der fast sechs Jahre lang dauerte. Zu den vielen Wurzeln dieses Krieges gehört die völlige Enthemmung und Verrohung einer politisch größenwahnsinnigen Sprache seit Beginn der 1930er Jahre: Die nationalsozialistische Propaganda mit ihrer gleichgeschalteten Presse und dem neuen, durchschlagenden Massenmedium des Rundfunks hämmerte der Bevölkerung den Hass systematisch ein. Es gab keine Toleranz mehr und auch keine Scham. Nicht nur gegen die Juden wurde immer wütender gehetzt, sondern gegen Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten, kurz: gegen alle, die sich dem Nationalsozialismus und seinem irrsinnigen Führerkult nicht bedingungslos unterwarfen. Viele Begriffe dieser Hass-Sprache waren regelrechte Todesdrohungen: „Volksschädling“, „Schmarotzer“, „ausmerzen“ und viele, viele andere. Aus den unverhüllten Drohungen wurden wenige Jahre später entsetzliche, tödliche Tatsachen.

Nach dem Krieg waren solche Worte in der öffentlichen Diskussion in Deutschland für lange Zeit tabu. Seit einigen Jahren sind sie wieder da. In den so genannten sozialen Medien toben Menschen anonym und ohne Bedenken ihre Wut und ihre Gewalt-Fantasien aus, und sie haben gute Chancen, dabei unerkannt zu bleiben. Feigheit und faschistisches Gedankengut, das waren schon immer Geschwister. Mit ein paar Klicks werden Hass und Hetze in die Welt getragen. Das lockt Gleichgesinnte an, und es sind nicht wenige. Nun wird wieder ungeniert von „Vergasen“, „Verrecken“ und „Abknallen“ Fremder und Andersdenkender gesprochen. Motto: Das wird man doch wohl noch sagen dürfen.

Wo immer Ewiggestrige in Deutschland öffentlich mit Demonstrationen auf Stimmenfang gehen, stellt sich ihnen vor Ort zum Glück meist eine vielfache Zahl demokratisch gesinnter Gegendemonstrantinnen und -demonstranten entgegen. Das ist gut so. Aber in der breiten Mitte der Gesellschaft schweigen zu alledem noch viel zu viele. Bis heute gehört immer noch mehr als die Hälfte der Bundesbürger einer der beiden großen christlichen Konfessionen in diesem Land an. Wie auch immer es mit der persönlichen Frömmigkeit des Einzelnen bestellt sein mag: Hass und Gewalt-Fantasien sind das Gegenteil der Botschaft Jesu von der Liebe Gottes und dem Ruf zu Vergebung und Versöhnung unter den Menschen. Heißt das etwas für die, die sich Christen nennen?

„Suche Frieden und jage ihm nach“ lautet die Jahreslosung für dieses Jahr, achtzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Und jedes Mal, wenn heute jemand herabsetzendem Gerede im Kollegenkreis nicht widerspricht, geht diese Jagd verloren. Jedes Mal, wenn sie oder er Hassbotschaften im Netz nicht entgegentritt und dumme Vorurteile des Nachbarn gegen Andersdenkende oder gegen Fremde einfach achselzuckend zur Kenntnis nimmt, verweigert er oder sie sich der Friedens-Suche. Und immer, wenn Raushalten die Devise ist, egal ob aus Ängstlichkeit oder Bequemlichkeit, rückt der Friede wieder weiter in die Ferne.

Musik: Nicole: Ein bisschen Frieden

Ein bisschen Frieden. Mehr nicht? Genau zur gleichen Zeit, als die Sängerin Nicole 1982 ihren Publikums-Hit landete, gab es anderswo, weiter östlich, ein sehr viel tieferes Nachdenken zum Thema Frieden. Auf dem Höhepunkt des Kaltes Krieges, als Ost und West sich in unerbittlicher Gegnerschaft in Europa hochgerüstet gegenseitig belauerten, entstand in der DDR eine Friedensbewegung mit einem einprägsamen Motto aus dem Alten Testament: Schwerter zu Pflugscharen. Die Vision vom Umarbeiten der Kriegswaffen zu Werkzeug für den Ackerbau stammte vom Propheten Micha, der im achten Jahrhundert vor Christus in wilden und grausamen Zeiten lebte. Eines Tages, so Micha, würden alle Völker auf Weisung Gottes ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln umschmieden, niemand werde mehr lernen, Krieg zu führen, der Schrecken werde ein Ende haben, und es werde Frieden sein.

Vollkommene Abrüstung, alle Waffen unbrauchbar zum Krieg und ewiger Friede, das war schon vor 3000 Jahren ein krasser Gegenentwurf zu allen damals aktuellen politischen Hassbotschaften und Gewalt-Fantasien: Eine unglaubliche Verheißung, allerdings leider erst für das Ende aller Tage, wenn nach dem uralten jüdischen Glauben der künftige Friedensfürst den Frieden Gottes, den Schalom auf die Erde bringen wird. Und die Hoffnung lebt: Schalom, das ist bis heute der übliche jüdische Gruß. Im Arabischen heißt es ganz ähnlich: Salam!

Nun ist das Ende aller Tage bekanntlich bis heute ausgeblieben. Aber wenige Jahre lang, nach der Wende von 1989 und dem Ende des Jahrzehnte langen Kalten Krieges schien es für kurze Zeit, als könnten wenigstens Teile des alten Traums vom Frieden mit internationalen Abrüstungsverträgen Wirklichkeit werden. Doch diese Zeiten sind auch schon wieder vorbei. Die Hoffnungen damals waren auch sehr blauäugig, weil sie vor allem den alten atomaren Ost-West-Gegensatz, nicht aber die riesigen und unglaublich komplizierten Konflikte im Rest der Welt im Blick hatten.

Vor allem aber konnte damals niemand ahnen, wie sehr in der Politik des neuen Jahrtausends auf einmal rückwärtsgewandte, engstirnig-dumpfe, nationalistische und auch rassistische Denkmuster aus der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts eine schauerliche Auferstehung feiern würden. Als ob zwei grauenvolle Weltkriege auf dieser geistigen Basis mit ihren Millionen Opfern nicht Mahnung genug seien.

Nein, damals, und auch heute war und ist es zu wenig, nur von „Einem bisschen Frieden“ zu singen oder zu träumen, wie einst Nicoles Hit von 1982. Ein bisschen Frieden, das hatte sicher auch die Generation unserer Großeltern und Urgroßeltern im Sinn, die winkend am Straßenrand oder auch nur stumm hinter der Gardine standen, wenn Hitler, der so genannte größte Feldherr aller Zeiten in seinem offenen Mercedes durch die Straßen mit den Fähnchen schwenkenden Massen rollte. Eigentlich wollten sie nur ihre Ruhe, und Widerspruch war ohnehin mit Strafe bedroht.

Aber der größte Feldherr aller Zeiten führte viele Millionen in den Tod. Der Fortgang der Geschichte zeigt: Wer einfach nur seine Ruhe haben will, wird diesen Frieden auf gar keinen Fall finden. Die hetzerischen Parolen der neuen Rechten gegen alles, was anders ist und denkt als sie und ihr furchtbar uraltes Vokabular zeigen das Ausmaß der Bedrohung für alle, die sehen, hören und lesen können.

„Suche Frieden und jage ihm nach“, lautet die evangelische Jahreslosung für das Jahr 2019. Vor 80 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Vielleicht beginnt ja für Christen die Jagd nach dem Frieden Gottes erst jetzt. Dieser Friede ist nicht einfach und nicht billig zu haben. Er wird viel Kraft brauchen.

Schalom! Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere ganze, kleine Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Musik: Nicole: Ein bisschen Frieden

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