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Menschlichkeit - der göttliche Funke
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Menschlichkeit - der göttliche Funke

Patricia Nell
Ein Beitrag von Patricia Nell, Katholische Pastoralreferentin und Religionslehrerin, Frankfurt
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Zu hunderten sind sie auf die Straße gegangen. Ohne Abstand. Kopf an Kopf. Ich möchte gerne verstehen, was in ihnen vorgeht. Alle Maßnahmen, die helfen sollen, diese Pandemie endlich zu beenden, haben sie lautstark angeprangert. Einer wird gefragt, weshalb er keinen Mund-Nasenschutz trägt. „Wieso sollte ich? Ich bin doch kerngesund,“ raunzt er grinsend in die Kamera. Solche Äußerungen machen mich wütend. Und nachdenklich. Vielen Menschen fehlt offenbar noch immer die Einsicht in das, was Not tut: sich zum Wohl aller einfach mal zurücknehmen und einschränken. Einfach mal still sein und die Wirklichkeit an sich heranlassen.

Sich einschränken und verzichten – für andere

Freiwillig im Sinne der Mitmenschen auf etwas verzichten – das ist offenbar nicht selbstverständlich. Viele scheinen das in ihrem Leben nicht gelernt zu haben.

Was für ein Segen, dass sich da zum Beispiel Pflegekräfte, Ärzte und Ärztinnen fast bis zum Umfallen für andere einsetzen. Seit über einem Jahr kämpfen sie oft noch immer rund um die Uhr um jedes einzelne Leben. Übernehmen Zusatzschichten oder lassen ihren verdienten Feierabend sausen. Und das für lange Zeit mit dem ganz großen Risiko, sich dabei selbst anzustecken. Gott sei Dank gibt es diese Menschen! Menschen, die so viel mehr geben, als sie müssten, um für jene da zu sein, die um Luft ringen. Sie verzichten, damit andere am Leben bleiben. Und in harten Zeiten kommt es genau darauf an: Die Not des anderen sehen, sie über den eigenen Vorteil stellen und sich damit das Menschlichste, nämlich die Menschlichkeit, zu bewahren.

Versuchen, sich ein menschliches Herz zu bewahren

Mich erinnert dieser Gedanke an den israelischen Künstler und Auschwitzüberlebenden Yehuda Bacon. Wenn er gefragt wird, wie er es geschafft hat, angesichts schrecklichster Erfahrungen zu überleben, dann sagt er: „Man musste versuchen, sich ein menschliches Herz zu bewahren“. Und dann erzählt er diese Geschichte:

„Eines Tages kamen mit einem Transport wieder Kinder an. Sie waren in einem fürchterlichen Zustand. Plötzlich, ohne dass uns jemand etwas sagte, sammelten wir unter uns Suppe für diese Kinder und reichten ihnen eine Schüssel hinüber, durch die Hochspannungsdrähte, die unsere Lagerabschnitte trennten. Das war lebensgefährlich. Eine kleine Berührung mit dem Blechnapf und es wäre vorbei gewesen. Woher kam dieser Impuls, dieses Mitfühlen mit den anderen? – Ich hatte einmal vom Mythos des göttlichen Funkens in uns allen gehört. Von einem Lehrer, den wir Schüler liebten. Als auch er deportiert wurde, wandte er sich uns noch einmal zu und sagte zum Abschied: ‚Vergesst nicht, Kinder, in allen Menschen ist so ein Funke.‘ Dieser Satz hinterließ einen tiefen Eindruck in mir.“ 

Sie sind ein Segen für uns alle

Schlimme Zeiten kann man überstehen, wenn man es schafft, sich ein menschliches Herz zu bewahren. Das sagt Yehuda Bacon. Von Menschen wie ihm kann man lernen, was es auch heute in schwierigen Zeiten braucht: statt lautstarker Selbstinszenierungen Menschen, bei denen der göttliche Funke überspringt.

Menschen, denen es nicht nur um das eigene Leben geht, sondern auch um das der anderen, die still und leise wie selbstverständlich auf vieles verzichten. Sie sind ein Segen für uns alle.

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