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Kein hoffnungsloser Fall
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Kein hoffnungsloser Fall

Prof. Dr. Gerhard Stanke
Ein Beitrag von Prof. Dr. Gerhard Stanke, Domkapitular

„Herr, in meinem Leben lief eigentlich schon immer alles schief. Schon meine Geburt war ein Unglück. Statt Geborgenheit bekam ich Prügel, statt Nestwärme einen Platz im Heim. Von einem Heim kam ich in ein anderes. Nirgends war ich länger als ein halbes Jahr. Überall sagte man mir, dass ich sehr schwierig sei. Zum Schluss holte mich ein neuer Stiefvater heim, aber der konnte mir auch nicht geben, was er selbst nicht bekommen hatte. Inzwischen bin ich fünfunddreißig, Herr, wer bin ich….?“

„`Eine höchst abnorme Persönlichkeit` meint der Psychiater.
`Unverbesserlich`, behauptet der Richter.
`Siebenmal vorbestraft`, sagt der Staatsanwalt.
`Knastgewohnt`, meinen die Vollzugsbeamten.
`Ein alter Knacki` sagen die Mitgefangenen.
`Ein hoffnungsloser Fall` – denke ich.
Und was denkst Du, Herr …?
Wer bin ich für dich…?“

Diesen Text hat ein 35-Jähriger aus einer Justizvollzugsanstalt geschrieben. Er war im Rahmen einer Ausstellung zu lesen, deren Titel hieß: Macht die Tür auf! Inhaftierte Menschen haben dort in Bildern und Texten ihre Gedanken, Fragen und Sehnsüchte ausgedrückt. Die einzelnen Ausstellungsstücke waren so gestaltet, dass man eine Tür öffnen musste, um das Bild zu sehen oder die Schrift zu lesen. In einem Flyer dazu stand: „Alle `Türen` der Ausstellung lassen sich öffnen. Sie geben Einblick auf das, was ein Mensch im Gefängnis für sich und womöglich für seine Familie anstrebt, oder inzwischen aufgegeben hat zu erreichen. Hinter der Tür wird deutlich, worauf der Mensch hofft, oder wo er sich von jeglicher Hoffnung distanziert. Viele Inhaftierte drücken in ihren Bildern ihre Sehnsucht nach Beziehung und Gemeinschaft mit der Familie aus“.

Die eingeschlossenen Menschen haben ihre innere Tür geöffnet. Sie geben anderen Einblick in ihr Denken und Fühlen. Der Schluss des eingangs zitierten Textes hat mich besonders getroffen: Der Gefangene sagt von sich: „Ein hoffnungsloser Fall“ und stellt dann die Frage: „Und was denkst du, Herr wer bin ich für dich?“ Ich hatte kurz zuvor in einer Zeitschrift von einer Ordensschwester gelesen, die sich um schwierige junge Menschen kümmert. Sie sagt: „Für Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle“. Aus ihr spricht offenbar die Erfahrung, dass in manchen sogenannten „hoffnungslosen Fällen“ doch noch die Kraft steckt zu einem neuen Anfang. So hat sie es wohl öfter erlebt. Ich bin ebenso davon überzeugt, dass Gott viel mehr Möglichkeiten hat, als wir uns ausdenken können, um Menschen innerlich zu erreichen. Auch jene, bei denen wir es nicht vermuten, gehören dazu.

In einer Stelle des Neuen Testamentes heißt es ausdrücklich: „Für Gott ist nichts unmöglich“ (Lk 1,37). Darin liegt auch ein guter Grund, niemanden als hoffnungslosen Fall aufzugeben. Wenn ich Menschen begegne, die sich selbst so nennen, kann ich durch die Art, wie ich ihnen begegne, oder auch durch ein Wort zeigen: Sie sind in meinen Augen kein hoffnungsloser Fall. Und in den Augen Gottes erst recht nicht.

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