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Hunde statt Handy - warum Kinder Natur brauchen
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Hunde statt Handy - warum Kinder Natur brauchen

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt

Ich sitze bei einer Freundin, wir haben uns nach langer Zeit mal wieder verabredet. Wir trinken Kaffee und quatschen, in ihrem Pfarrhaus ist es still. Mein Hund döst unter dem Küchentisch. Ihre beiden Kinder spielen oben im Kinderzimmer. Als wir mal kurz nach oben lauschen, sagt sie sorgenvoll: „Ich hoffe, sie spielen wirklich.“ Sie seufzt: „Wenn ich nicht aufpasse, sitzen sie den ganzen Nachmittag vor dem Computer.“ Ich frage nach. „Dürfen sie denn nicht an den PC? „Doch, natürlich“, sagt meine Freundin, „das geht ja gar nicht anders, schon wegen der Hausaufgaben. Aber am liebsten surfen sie im Netz herum, ich kann sie ja nicht dauernd kontrollieren.“

Das kenne ich. Meine Tochter hatte auch so eine Phase, da hatte sie mit Freunden eine virtuelle Harry-Potter-Zauberschule eingerichtet. In jeder freien Minute war sie online und loggte sich in ihr Hogwarts-Projekt ein. Stunden hat sie am Computer verbracht. Bei meiner Freundin unterm Tisch stupst mich mein Hund an. Mit dem müsste ich noch eine Runde gehen. Ich schlage vor: „Das Wetter ist ganz gut, vielleicht haben die Kinder ja Lust, mit zu kommen?“ Und Bingo, es funktioniert. Zuerst waren sie nicht übermäßig begeistert. Aber dann kappeln sie sich gleich, wer den Hund an der Leine führen darf.

Als wir am Feldrand ankommen und den Hund von der Leine lassen, kommt bei allen der Spieltrieb durch. Die Kinder laufen mit dem Hund um die Wette. Sie suchen am Wegrand nach Stöckchen und werfen sie dem Hund. Der kann sich gar nicht entscheiden, wohin er zuerst rennen soll und bleibt stehen. Alle lachen. Wir kommen zu einem kleinen Bach am Waldrand. Der Hund platscht ins Wasser und schlabbert. Die Kinder schauen zu und versuchen dann, selber über den Bach zu kommen. Sie testen, wie tief das Wasser ist, suchen Steine und werfen sie platschend ins Bachbett. Mit einem langen Stock können sie sich abstützen und balancieren sich auf die andere Seite. Sie schaffen es, ohne sich die Füße nass zu machen. Der Hund springt kläffend von der einen Seite zur anderen. Dann schüttelt er sein Fell. Schlamm und Wasser fliegen uns um die Ohren, auch unsere Hosen und Jacken bekommen eine Portion ab.

Der Hund wedelt mit dem Schwanz und schaut, was wir als nächstes machen. Ich könnte schwören, er lächelt. Wir machen uns auf den Heimweg. Dreckig, aber glücklich. Warum fühlt es sich so gut an, zusammen mit dem Hund durch die Natur zu streifen?

Wir brauchen Natur. Besonders die Kinder. Schon die Allerkleinsten sind fasziniert von den Vorgängen in der Natur. Ein Donner beim Gewitter versetzt Kinder in Aufregung oder Angst. Tiere begeistern sie. Fast jedes Kleinkind lernt, wenn es „Mama“ und „Papa“ sagen kann, als nächstes das Wort „Wauwau“. Ich glaube, der Kontakt von Kindern zur Natur gibt ihnen das Gefühl, Teil dieser großen weiten Welt zu sein. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hat gesagt: „Der junge Mensch braucht seinesgleichen, nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum. Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen … Er überlebt es, doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt.“ Soweit der Psychologe.

Kinder lernen Menschlichkeit von den Menschen, die sie lieben. Und sie entwickeln einen Sinn für ihre Lebendigkeit durch andere Lebewesen. Die gesamte Natur, selbst Flüsse, Steine und Wolken, lehren Kinder, dass sie nicht in einer allein von Menschen gemachten Welt leben.

Mein Mann und ich sind Stadtmenschen, unsere Tochter ist in Hamburg aufgewachsen. Darum haben wir, als sie noch klein war, viele Jahre lang Urlaub auf dem Bauernhof gemacht. Auf dem Hof liefen Katzen rum und ein großer Bernhardiner lag scheinbar schläfrig vor dem Stall, immer mit einem Ohr lauschend. Es gab Kühe mit Kälbern, und wir durften Lämmer der Schafe mit der Milchflasche füttern. Das Pony durften wir auf der Wiese anlocken und das Kind darauf reiten lassen. Abends kam ein Igel, dem ein Bein fehlte und der von der Bäuerin aufgepäppelt worden war. Wir gaben ihm Haferflocken mit Milch. Ja, und auch die Mücken im Klee, die Schnecken an der Gartenmauer und die unsagbar vielen Fliegen in unserer Ferienküche hatten uns beeindruckt.

Gemeinsam mit unserem Kind konnten wir erleben, wie die Natur uns umgibt. Unser Kind entwickelte Mitgefühl mit den Lebewesen, sie spürte Grenzen, und sie erfuhr, dass die Natur auch Gefahr bedeuten kann – vor allem, als das Pony sie mal abgeworfen hatte und ausbüxte, und nur unser vorsorglicher Haltegriff am Hosenträger sie vor dem Absturz bewahrt hatte. Die Natur kann bedrohlich sein. Aber Pflanzen und Tiere gehören seit Jahrtausenden zum Leben der Menschen. Davon weiß auch die Bibel.

Im Alten Testament heißt es: „Ein guter Mensch kümmert sich um das Wohl seiner Tiere; ein böser hat kein Herz für sie.“ (Sprüche 12:10) Das heißt, Menschen sollen verantwortungsvoll mit der Natur umgehen. Zur Zeit der Bibel war die Landwirtschaft noch allgegenwärtig. Die Ziegen und Schafe gaben Milch und Wolle. Kühe gaben Milch und brachten hochwertiges Fleisch. Mit Pferden kam man schnell voran und sie wurden als Zugtiere eingesetzt. Weil die biblischen Menschen in einer engen Schicksalsgemeinschaft mit den Tieren lebten, wussten sie: Man war aufeinander angewiesen. Ging es den Tieren schlecht, hatten die Menschen ebenfalls ein Problem.

Aber die Bibel lässt Menschen nicht nur an ihren eigenen Nutzen denken. Die Natur ist nicht einfach für die Menschen da. Mensch und Tier haben ihre eigene Würde. Gottes Erde trägt uns und Gottes Himmel übersteigt uns. Martin Luther sagt es in seinem Katechismus so: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat, samt allen Kreaturen.“ Das ist ein Bekenntnis, dem sich alle Christen anschließen sollen. Menschen und Tiere sind zusammen Gottes Geschöpfe. Den Menschen kommt eine besondere Verantwortung zu. Sie gibt ihnen aber weder das Recht zur Herrschaft noch zur Ausbeutung von Tieren. Das gilt für ein Haustier genauso wie für die Tiere im Zoo. Es gilt für die Tiere in den Ställen und Mastbetrieben wie für die wilden Tiere in freier Natur.

Kinder lernen das am besten, wenn sie sich in der Natur bewegen können. Als Erwachsene sollte man sich das nicht entgehen lassen. Auch nicht, wenn man sehr alt ist. So kommen in einem Pflegeheim in Darmstadt einmal die Woche Hunde zu Besuch. Thierry ist so einer. Geduldig lässt er sich von der alten Dame kraulen. Die Dame lächelt versonnen. Sie ist schwer demenziell erkrankt und oft sehr unruhig. Aber jetzt streichelt sie entspannt das Hundefell. Der Hund wirkt beruhigend auf sie. Eine Mitarbeiterin erzählt mir: So ein Tier weckt bei den Bewohnern oft Erinnerungen an früher. Sie fangen an, darüber zu reden, über eigene Hunde früher oder die Kindheit.

Die Kindheit heute unterscheidet sich von der früherer Generationen. Viele Kinder verlassen heute kaum die direkte Umgebung des Elternhauses. Sie treffen draußen auch weniger Spielkameraden als früher. Eltern machen sich oft zu viele unnötige Sorgen. Aus Sicherheitsdenken verengen sie die Spielräume ihrer Kinder. So sind viele Kleine zu Bewohnern von Autorücksitzen geworden. Sie werden von Aktivität zu Aktivität gefahren. Manche sind schon früh verplant. Es fehlen Freiräume. Und damit fehlen die sinnlichen Erlebnisse: Spüren, wie rau sich Holz anfühlen kann. Heu riechen. Kaulquappen in einer Pfütze am Wegrand beobachten.

In der Sprache der Psychologen gesagt: Ohne die Nähe zu Pflanzen und Tieren verkümmert die emotionale Bindungsfähigkeit der Kinder. Lehrer beobachten: Vielen Schülerinnen und Schülern fehlen Fantasie, Kreativität und Lebensfreude. Also, wer immer mit Kindern zu tun hat: Lassen wir Wildnis zu, auch wenn es unordentlich aussieht. Etwas zu erleben gibt es draußen überall. Schicken wir Kinder zum Spielen raus, so oft es geht. Und ich selbst kann mit ihnen erkunden, was sie am Wegesrand entdecken, in Pfützen oder unter vermoderten Ästen. Natur macht gesund. Seelisch gesund. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht, wie bei dem Hundespaziergang mit meiner Freundin und ihren Kindern. Vielleicht kann so ein Tier uns ja wirklich etwas beibringen, nämlich wie schön es ist, einfach zu leben.

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