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Heilende Berührung
Tania Van den Berghen/Pixabay

Heilende Berührung

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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„Es tut so gut, wenn mich jemand berührt.“ erzählt die ältere Frau. Sie liegt im Krankenhaus und hat eine größere Operation an ihren Beinen hinter sich. Die Ärzte haben sie durchgeführt, nachdem sie länger hin und her überlegt hatten, ob sie ihr das zumuten könnten. Zum Glück ist alles gut verlaufen! Sie ist wieder aufgewacht und hat das Schlimmste überstanden. Jetzt darf die ältere Dame noch eine Zeitlang im Krankenhaus bleiben. Sie macht eine Reha, um wieder zu Kräften und - im wahrsten Sinne des Wortes - auf die Beine zu kommen.

Wenn ich als Krankenhauspfarrerin morgens ins Haus komme, sehe ich sie oft schon langsam mit dem Rollator ihre Runden drehen. Meist mit einem der Physiotherapeuten an ihrer Seite, manchmal aber auch allein. Sie setzt vorsichtig einen Schritt vor den anderen und ruht zwischendurch aus. Oft lässt sie sich nieder auf eine der Bänke, um nach Luft zu schnappen. Dann wagt sie einen weiteren Gang.

Als ich sie in ihrem Zimmer besuche, sagt sie mir: „Es tut so gut, wenn mich jemand berührt.“ erzählt die ältere Frau. Sie hat starke Schmerzen. Und trotzdem sieht sie fröhlich aus. „Es tut gut, wenn mich jemand mit der Hand anfasst. Wenn jemand mich berührt genau da, wo alles weh tut.“

Die alte Frau ist während ihrer Reha zum ersten Mal in ihrem Leben massiert worden. Die Physiotherapeuten wissen genau, wieviel Kraft es braucht. Sie ertasten, wo die verhärteten Stellen sitzen. Manchmal hilft eine Massage. Manchmal auch eine Fangopackung. Da wird der Körper mit Schlamm bestrichen und kommt zur Ruhe. Zuhause ist niemand, der sie so unterstützen kann. Und wahrscheinlich ist es schon lange her, seit sie körperliche Nähe gespürt hat. Geschweige denn seit da jemand war, der zärtlich zu ihr war.
Die ältere Frau im Krankenhaus genießt die körperliche Zuwendung. „Es fühlt sich an wie ein Jungbrunnen. Danach bin ich wie neu geboren.“ sagt sie.

Musik  Georg Friedrich Händel, Toccata c-moll

Berührungen sind in den vergangenen Jahren in Verruf geraten. Schnell wird damit übergriffige Nähe verbunden oder gar sexualisierte Gewalt. Menschen haben sich etwas angemaßt, was ihnen nicht zusteht. So wird eine Berührung übergriffig und verletzend. Darunter leiden viele Betroffene ihr Leben lang. Kinder oder Jugendliche bringen einer Respektsperson Vertrauen entgegen. Dem netten Onkel oder Nachbarn. Dem Pfarrer oder der Sporttrainerin. Dem Lehrer oder der Gruppenleiterin. Sie gehen offen auf sie zu mit ungeschütztem Visier und ahnen nichts Böses. Aber dieses Vertrauen wird schamlos ausgenutzt. Jemand tritt ihnen zu nah und tut ihnen weh. Das darf nicht sein.

Berührungen sind sehr persönlich. Damit muss man sensibel umgehen. Man muss spüren, wie nahe heran man gehen kann und wo die Grenze ist. Körperliche Nähe und Berührungen tun mir dann gut, wenn ich dem anderen vertraue. Die alte Dame im Krankenhaus hat Vertrauen zu ihren Therapeuten gefasst und kann deshalb ihre Nähe genießen. Ich sehe sie miteinander reden und lachen, während sie ihre Runden drehen und spüre dabei viel Sympathie. Ohne diese Zuneigung ist es nicht möglich, sich berühren zu lassen. Eine Berührung tut mir gut, wenn sie auf Augenhöhe und gleichberechtigt verläuft. Wenn ich selbst den Rahmen abstecke und bestimme, was ich möchte und was nicht. Anders geht es nicht.

Jesus hatte dafür ein gutes Gespür. Er ist den Menschen nahegekommen. Er hat sie nicht aus der Ferne mit ein paar dürren Worte abgespeist, sondern ist auf Tuchfühlung gegangen. Er ist ihnen als Mensch mit Leib und Seele begegnet. Doch dabei hat er immer ihre Grenzen respektiert. Er ist nicht übergriffig geworden, sondern hat gefragt: Was willst du, dass ich dir tue? Oder: Willst du gesund werden? In solchen Fragen schwingt viel Respekt mit: Die andere Person bestimmt die Nähe. Sie kann „Stopp!“ sagen und zurücktreten, wenn es ihr zu eng wird. Sie kann Distanz wahren.
Jesus rückt niemanden ungefragt auf die Pelle.

Musik  Erik Satie, Gymnopedie No. 1

Johannes 9:

Jesus rückt niemandem ungefragt auf die Pelle. Das Johannesevangelium erzählt dazu eine Geschichte, und die geht so.

Ein Mann sitzt am Eingang zum Jerusalemer Tempel – stundenlang, tagelang. Eigentlich immer. Er ist schon seit seiner Geburt blind. Er kann nichts sehen, hat keine Vorstellung von all dem Schönen, das ihn umgibt. Deshalb kann er auch nicht arbeiten und sich sein Geld verdienen, sondern bettelt am Eingang des Tempels. Dort treffen ihn Jesus und seine Jünger. Die Jünger wollen wissen, wer am Elend dieses Mannes, an seiner Krankheit schuld ist. Damals dachten viele: Krankheit ist eine Strafe Gottes für begangene Sünden. Deshalb fragen die Jünger Jesus: „Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ Wenn die Frage nach der Verantwortung, nach der Schuld geklärt ist, dann brauche ich mich nicht länger mit jemandem zu befassen. Dann gilt: Selbst schuld. Zu lange gearbeitet? Burn-out. Zu viel geraucht? Lungenkrebs. Zu wenig Sport getrieben? Herzprobleme. Der Grund ist schnell gefunden. Die Schuldfrage geklärt. Aber so einfach macht Jesus es sich nicht.

Natürlich gibt es da Zusammenhänge. Leib und Seele existieren nicht losgelöst voneinander, sondern stehen im Wechselspiel. Wie rigoros ich mit mir selbst umgehe, das hat Auswirkungen auf meinen Körper. Aber nicht im Sinne einer Liste, die abgearbeitet werden kann. Ernährst du dich gut? Haken dahinter. Bewegst du dich regelmäßig? Haken. Schläfst du genug? Haken. Auch wenn ich vermeintlich verantwortungsbewusst lebe, dann ist das trotzdem keine Garantie, dass ich gesund bleibe. Da bleibt etwas Unverfügbares. Ein Geheimnis, das sich nicht so leicht lüften lässt.

„Frau Pfarrerin, warum bekomme ausgerechnet ich diese schlimme Diagnose? Was habe ich falsch gemacht?“ Darauf weiß ich als Klinikseelsorgerin oft keine Antwort. So simpel ist das Leben nicht: Wenn ich A tue, dann folgt daraus B. Diese klare Kausalität geht nicht auf. Eine solche Antwort würde dem Menschen nicht weiterhelfen, weil sie nach hinten schaut. Sie ist rückwärtsgewandt. Was ich mir stattdessen wünsche, ist zusammen zu überlegen, wie ein Mensch mit dieser Krankheit leben kann. Woher er seine Kraft bezieht. Den Blickwinkel zu wechseln und nach vorn zu schauen.

Zurück zum Tempeleingang in Jerusalem, zu Jesus und dem blinden Mann. Die Jünger wollen von Jesus wissen: Wen trifft die Schuld für sein Schicksal? „Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ Sie möchten verstehen, was hier passiert. Sie trauen Jesus zu, dass er Antworten auf ihre Fragen hat: Hängen Krankheit und Schuld irgendwie zusammen? Meist hat er ja ganz ungewöhnliche erfrischende Gedanken.

Vielleicht fühlen sie sich auch ein bisschen gestört von dem, der da sitzt. Aber Jesus lässt sich gern stören. Er ist nie fertig mit einem Menschen. Er schreibt ihn nicht ab – und so weist er hier die Frage nach der Schuld auch klar ab: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern.“ So einfach ist es nicht. Das ist ein wichtiger Satz. Denn bis heute denken viele, dass Menschen an ihrer Krankheit selbst schuld sind. Jesus sagt hier ganz klar: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern.“

Musik  Domenico Scarlatti, Sonata c-moll

Jesus lässt sich gern stören. Er sieht den Menschen, der ihn braucht, und unterbricht seinen Weg. Im Falle des Blinden am Eingang zum Tempel tut Jesus etwas Merkwürdiges, ja fast Ekliges. Er spuckt auf den Erdboden und rührt aus seinem Speichel und der Erde einen Brei. Diesen Brei streicht er behutsam dem Blinden auf die Augen. Er schreckt nicht zurück vor diesem Kranken. Er scheut sich nicht, ihm zu begegnen. Hat keine Angst sich anzustecken. Er kommt ihm nah und berührt ihn. Er meint wirklich ihn persönlich. Diesen Moment der Geschichte möchte ich für einen Moment anhalten. Ein Standbild. Ich kann ihn vor mir sehen, den Blinden in seiner Verwunderung und Jesus, der in berührt. Er bestreicht die Augen des Blinden mit dem heilenden Brei. Das fühlt sich gut an. Belebend. Ein ganz intimer Augenblick.

Aber den unterbricht Jesus bald. Er hat eben ein feines Gespür dafür, dass die Begegnung nicht zu eng werden darf. Seine Berührung ist nicht übergriffig. Sein Gegenüber wird nicht zum willenlosen Objekt seiner Zuwendung degradiert. Er wird nicht behandelt wie ein unmündiger Patient nach dem Motto herablassender Ärzte. „Haben wir gut geschlafen? Da wollen wir mal die Augen mit einer Salbe bestreichen…“ Keine noch so gut gemeinte Beglückung! Jesus macht den Blinden am Tor selbst zum Subjekt seiner Geschichte.

Jesus schickt ihn weg: „Geh zum Teich Siloah und wasch dich!“ (Johannes 9,7a) Jesus weiß, (was heute in der Medizin wieder neu entdeckt wird): Heilung kann nur dann geschehen, wenn die Patientin oder der Patient dem Therapieziel zustimmt und selbst etwas dazu beiträgt. Er muss aktiv werden und selbst etwas tun. Das tut der blinde Mann am Tor. Die Bibel berichtet: kurz und bündig: „Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.“ (Johannes 9,7b)

Das öffnet ihm die Augen. Er kann wieder sehen. Nach einem langen Leben in Dunkelheit scheint nun das Licht hell in sein Gesicht hinein. Ich stelle mir das überwältigend vor. Atemberaubend. Vielleicht ist er erst einmal geblendet. Überfordert mit der neuen Situation. Denn er hat sich ja eingerichtet in der Dunkelheit. Er kannte sich aus. Aber auf einmal ist alles neu. Was er vorher nur tasten, riechen, hören konnte, das sieht er plötzlich. Farben stürmen auf seine Netzhaut ein. Es ist eine Pracht. Ein Wunder.  

Ein Gedicht von Wilhelm Bruners versucht, die Empfindung des Geheilten einzufangen:

auf den punkt gebracht

wunder punkt
augen

wunder punkt
ohren

wunder punkt
mund

wunder punkt
schoß

wunder punkt
ich nachtmensch

dein speichelfinger
brennt

ich sehe
lichtflecken

Jesus berührt den Blindgeborenen. Die Berührung macht ihn heil.

Musik  Witold Lutoslawski, Magia

„Es tut so gut, wenn mich jemand berührt.“ Das erfährt die alte Frau, die im Krankenhaus zum ersten Mal im Leben massiert wird. Berührung tut gut, wenn sie im Vertrauen und auf Augenhöhe geschieht. Und mehr noch: Berührung macht heil. Das erlebt der blinde Mann, dem Jesus begegnet. Er macht einen Brei aus seiner eigenen Spucke und streicht sie ihm behutsam auf die Augen. Auf seinen wunden Punkt.

Ich erlebe selbst, wie Berührung heilen kann. Mein kleiner Enkelsohn hört auf zu weinen, wenn er gestreichelt wird. Früher hat es mich getröstet, wenn meine Mutter mir über den Kopf gestrichen hat. Auch als Erwachsene tut es gut, liebevoll in den Arm genommen zu werden. Das ist ein Stück Heilung. Ich spüre, ich bin nicht allein.  

Wenn Jesus Menschen berührt, dann geht das ganz tief. Er macht einen Spuckebrei und lässt diesen konkreten Menschen dadurch spüren: Ich bin dir nah. Ich kümmere mich um dich. Du bedeutest mir viel. Und um ihm das nicht nur mit Worten zu sagen, sondern es ihn körperlich spüren zu lassen, berührt Jesus den Mann.

Szenenwechsel zum Teich Betesda. Auch in Jerusalem: Dort begegnet Jesus einem anderen Menschen. Er liegt 38 Jahre lang gelähmt da und wartet dringend. Jemand soll ihn ins heilende Wasser hinein tragen. Jesus sieht ihn dort liegen – und diesmal geht es ganz ohne Berührung. „Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wird der Mensch gesund und nimmt sein Bett und ging hin.“ (Johannes 5) Jesus geht nicht an ihm vorüber, sondern er sieht ihn, nimmt ihn wahr und spricht mit ihm. Das macht ihn gesund.

Worte können manchmal so viel bewirken wie Medizin. Es tut gut, wenn sich jemand Zeit nimmt und zuhört, ohne dabei auf die Uhr zu schauen. Das hat heilende Wirkung.

Jesus scheint genau zu spüren, was Menschen brauchen. Einer braucht ein gutes Wort. Eine andere einen aufmerksamen Blick. Ein dritter eine zärtliche Berührung.
Der blinde Mann am Tempel braucht über das Wort hinaus etwas Handgreifliches. Etwas zum Anfassen. Und wenn es etwas zutiefst menschliches wie Spucke ist.

Jesus lässt sich gerade vom Unschönen berühren: von leidenden Menschen. Von Leprakranken, die ausgegrenzt werden. Von Hungernden und Dürstenden. Von Geflüchteten. Jesus wird so stark vom Leid berührt, dass er sich selbst dem Leiden aussetzt. Jesus leidet selbst. Darum kann er andere berühren und heilen. Er kann das Leid nicht stehenlassen und akzeptieren. Es soll geheilt werden – ganz handgreiflich.

Als Krankenhauspfarrerin erlebe ich das. Ich kann Menschen in ihrer Not begegnen, weil letztlich nicht ich selbst ihnen zur Seite stehe. Ich kann uns alle in den größeren Zusammenhang des Glaubens stellen und merke: Das entlastet. Das belebt. Das trägt selbst im Tod.

Heute beginnt die Passionszeit. Vierzig Tage, sich auf Karfreitag und Ostern vorzubereiten. In dieser Zeit nehme ich mir vor, mich bewusst berühren zu lassen von dem, was um mich herum geschieht. Nicht einsortieren, in Schubladen stecken und es mir dadurch vom Leib halten. Sondern Hinschauen. Hingehen. Spüren. Berühren. Wie es Jesus getan hat. So gut ich es kann.

Musik  Domenico Scarlatti, Sonata G-Dur

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