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Eine schrecklich nette Familie – Jesus und die Seinen
Bild: Gerd Altmann/Pixabay

Eine schrecklich nette Familie – Jesus und die Seinen

Dr. Willi Temme
Ein Beitrag von Dr. Willi Temme, Evangelischer Pfarrer, Martinskirche Kassel
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Heute Morgen soll es um Jesus und seine Familie gehen. Vielleicht wundern Sie sich ein wenig über dieses Thema. Denn schließlich ist ja heute nicht Weihnachten son-dern Pfingsten.

Denn dass wir an Weihnachten auf die Familie Jesu schauen, liegt ja auf der Hand. Da sind die Mutter Maria und der Vater Josef, und da ist das Kind in der Krippe. So sehen wir sie vor uns: die heilige Familie im Stall von Bethlehem. Wunderschöne Bil-der gibt es davon. 

Aber auf Pfingsten? Was hat denn Pfingsten mit der Familie Jesu zu tun? Ich würde sagen, lassen Sie sich einmal überraschen.

MUSIK J.S. Bach, Triosonate Nr. 4 e-moll, BWV 528, 1. Satz: Adagio – Vivace

Über das Pfingstfest berichtet die Bibel: der Heilige Geist kam über die Jüngerinnen und Jünger Jesu. Und dieser Geist hat sie mutig gemacht, auf die Straßen und Plätze zu gehen und öffentlich von Jesus zu erzählen: von seinem Tod und von seiner Auf-erstehung und davon, dass Jesus durch den Heiligen Geist noch immer bei uns ist.

Soweit, so bekannt. Aber was mir vor kurzem zum ersten Mal aufgefallen ist, das ist die Nachricht, die mit Jesu Familie zu tun hat: zu diesen Jüngerinnen und Jüngern, die nun so mutig von Jesus erzählten, zu dieser sogenannten Urgemeinde, gehörten nämlich auch seine Mutter Maria und seine leiblichen Brüder. Ja, so steht es in der Bibel. Nachzulesen in der Apostelgeschichte im ersten Kapitel. Da heißt es: die Jün-ger Jesu waren nach seiner Auferstehung in Jerusalem beisammen im Gebet. Und wörtlich heißt es dann "samt den Frauen – nämlich der weiblichen Anhängerschaft Jesu – und (hört, hört!) der Mutter Jesu, und seinen Brüdern." So steht es da.

Diese Nachricht war es, die mich beim Wiederlesen der Pfingstgeschichte, stolpern ließ. Wie? – dachte ich, wie kann das sein, dass Maria und ihre anderen Söhne nun plötzlich zu den Anhängern Jesu gehören? Denn aus der Lektüre der Evangelien wusste ich: Das war ein schwieriges Verhältnis zwischen Jesus und dem Rest seiner Familie. Und nun plötzlich sollte sich die Familie bekehrt haben und zur Gemeinde Jesu gehören? Diese Frage war der Stein, über den ich gestolpert war.

Aber wie war das nun genau mit Jesus und seiner Familie. Was sagt die Bibel dazu?

MUSIK J.S. Bach, Triosonate Nr. 1 Es-Dur, BWV 525, 2. Satz: Adagio

Die Evangelien berichten, dass Jesus in dem Dorf Nazareth in Galiläa, im Norden des heutigen Israel, aufgewachsen ist. Seine Mutter war Maria, oder mit jüdischem Na-men: Mirjam. Sie war verheiratet mit Josef, einem Zimmermann – oder besser sollte man sagen, einem Bauhandwerker, gewissermaßen einem Allround-Bauexperten. 

Jesus selbst wird im Evangelium einmal "des Zimmermanns Sohn" (Mt 13,55) ge-nannt. Und nach alter Tradition erlernte der Sohn auch das Handwerk des Vaters. 

Als Jesus dann anfing, öffentlich zu wirken, zu reden und zu heilen (man vermutet, dass er da etwa 30 Jahre alt war), da wunderten sich die anderen aus dem Dorf Na-zareth und sprachen (Markusevangelium, Kapitel 6):

"Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns? - Und sie är-gerten sich an ihm".

Da erfahren wir also die Namen von vier leiblichen Brüdern: Jakobus, Joses, Judas und Simon. Und dann muss es da noch mindestens zwei leibliche Schwestern gege-ben haben, die zur Familie gehörten.

Von Josef, dem Mann der Maria, hören wir später nichts mehr. Er scheint irgend-wann zu Lebzeiten Jesu gestorben zu sein.

Aber über Maria und ihre übrigen Kinder erfahren wir interessante Dinge!

Als nämlich Jesus von zuhause fortgegangen war und in anderen Orten seine Jünge-rinnen und Jünger um sich scharte, da war der Rest der Familie – gelinde gesagt – sehr besorgt. Sie reisten hinter ihm her, um ihn wieder nachhause zurück zu holen.

Der Evangelist Markus berichtet im 3. Kapitel, wie Jesus in einem Haus vor vielen Leuten redet. Da sagen plötzlich einige der Leute zu ihm: 

"Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir."

Und der Evangelist fährt fort mit folgenden Worten:

"Jesus antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!"

Und das heißt doch: Jesus ließ seine Familie abblitzen. Ihm waren jetzt andere Men-schen wichtiger. Kann man sich wohl vorstellen, wie das bei seiner Mutter und bei seinen Geschwistern ankam?

O ja, man kann es sich vorstellen. Sicher waren sie tief gekränkt. Und wer wollte das nicht verstehen? Wer auf so schroffe Weise vom eigenen Sohn und vom eigenen Bruder abgefertigt wird, dem muss das weh tun. Dem kann das nicht egal sein.

Ganz offensichtlich zog die Familie ihre eigenen Schlüsse aus Jesu Verhalten. Maria und die Geschwister sagten über Jesus: „Er ist von Sinnen“, was wir heute wohl übersetzen würden mit: „er ist verrückt geworden!“ (nachzulesen bei Markus 3,21).

Was für eine Familie! Und das soll die heilige Familie gewesen sein? Da steckte ja offensichtlich so viel Konfliktstoff in diesem Verhältnis zwischen Jesus und den Sei-nen, dass eine Familienberatung an ihre Grenzen gekommen wäre. 

Desto größer scheint mir aber das Wunder zu sein, dass die ganze Familie auf Pfings-ten zu unserer größten Überraschung zur Jerusalemer Urgemeinde gehörte. 

Bevor wir auf dieses versöhnliche Ende noch einmal genauer schauen, lassen Sie uns aber erst einmal auf unsere eigenen Familienverhältnisse blicken. Ich vermute: da gibt es keine Familie ohne Probleme!

MUSIK J.S. Bach, Triosonate Nr. 6 G-Dur, BWV 530, 2. Satz: Lente

Dass es nicht immer problemlos zugeht in unseren Familien, das war sicher auch schon vor Corona klar. Aber ich denke, dass gerade die Quarantänevorschriften der letzten Monate so manche Familie in eine ernsthafte Krise gestürzt haben. Besonders wenn eine große Familie in einer kleinen Wohnung Tag für Tag dicht beieinander sein musste.

Aber wie gesagt: Konflikte kommen in Familien auch in normalen Zeiten vor. 

Eine Reihe von Problemanzeigen kann man immer wieder hören.

Da ist die Klage der Eltern über die Undankbarkeit der Kinder. Was hat man doch alles für die Kinder getan! Und wird es einem wohl gedankt? 

Eltern erleben, wie Kinder ihre eigenen Wege gehen. Und nicht selten fühlen sich gerade alte Eltern allein gelassen. 

Auf der anderen Seite hört man die Klagen von den Kindern: Die Eltern interessieren sich immer nur für die Arbeit und für ihre eigenen Interessen! Die Eltern nehmen gar nicht wahr, was mich interessiert und was ich fühle. Die Eltern sind mir eigentlich fremd.

Und dann gibt es da das traurige Kapitel des Missbrauchs in der Familie. Erst in den vergangenen zehn Jahren ist dieses Problem so recht an die Öffentlichkeit getreten. Da gibt es Gewalt zwischen Mitgliedern der Familie, und zugleich wird ein Mantel des Verschweigens darüber ausgebreitet!

Aber natürlich sind nicht alle Probleme und Konflikte in der Familie so dramatisch. Meistens, denke ich, geht es in unseren Familien um Alltagskonflikte. Um Auseinan-dersetzungen und Reibereien, die einfach dazu gehören, und wo man dann sagt: „das kommt in den besten Familien vor!“

Eine Form des Familienkonflikts möchte ich aber noch genauer betrachten. Denn sie hat auch etwas zu tun mit dem, was wir bei Jesus und seiner Familie gesehen haben. Es geht da um die bewusste Abgrenzung von der Familie. Darum, ganz bewusst ei-nen anderen Weg einzuschlagen.

Viele Jungendliche suchen diese Auseinandersetzung in der Zeit ihrer Pubertät. Ich selber erinnere mich noch gut an die eigenen Kämpfe in der Zeit, als ich so 13/14 war. Mit Neid schaute ich auf die Familien meiner Schulfreunde: ja, in einer solchen Familie hätte ich leben wollen – aber doch nicht in meiner!

Es war eine Zeit, in der ich sehr stark auf der Suche nach meinem eigenen, ganz per-sönlichen Weg war. Wie viele Reibereien hat es da gegeben. Und doch: es konnte gar nicht anders sein:

Jeder Mensch ist doch einzigartig und unverwechselbar. Und wenn wir uns auf die Fährte unserer eigenen Sehnsüchte, Begabungen und Fähigkeiten begeben, dann müssen wir uns auch abgrenzen. Dann gilt meine Entscheidung und nicht die Ent-scheidung von Vater, Mutter oder Geschwister.

Viele wissen von solchem Losreißen sicher ein Lied zu singen. 

Da spürt eine in sich die Begabung zu singen und möchte es studieren. Die Eltern finden aber: das ist eine brotlose Kunst!

Da verliebt sich einer statt in eine Frau in einen Mann. Und die Eltern finden: das kannst du uns doch unmöglich antun!

In solchen und in ähnlichen Fällen gilt es dann, der inneren Stimme zu folgen und mutig dem eigenen, bestimmt nicht immer einfachen Weg zu folgen!

Und so, stelle ich mir vor, war es auch bei Jesus.

MUSIK J.S. Bach, Triosonate Nr. 4 e-moll, BWV 528, 3. Satz: Un poc’allegro

Der Blick auf Jesus und seine Familie verstärkt bei mir eine Erkenntnis, die aus mei-ner eigenen Erfahrung kommt. Sie lautet:

Wir können unmöglich mit der eigenen Familie immer im Frieden sein.

Das muss man aber nicht als etwas Schlimmes betrachten, als ein schreckliches Drama.

Vielmehr sind die Reibungen in der eigenen Familie etwas ganz Normales. Das muss so sein, und kann nicht anders sein.

Blicken wir auf den Weg Jesu, so erkennen wir: Jesus musste seinen eigenen Weg gehen. Er musste sich von seiner Familie und seinem Herkommen abgrenzen, um eine neue Freiheit zu erlangen.

Es gibt den Ruf des Lebens – und manche Menschen erkennen darin den Ruf Gottes. Dieser Ruf kann so stark sein, dass er uns bereit macht, einen ganz eigenständigen Weg zu gehen. Ein Weg, der durchaus unbequem sein kann für uns selber und für unsere Umgebung.

Das müssen wir einfach aushalten.

So wie Eltern ihre pubertierenden Kinder aushalten müssen.

Und pubertierende Kinder ihre Eltern.

Es geht daran wohl kein Weg vorbei. 

Aber auf diesem Aushalten liegt eine Hoffnung. Nämlich die, dass am Ende aus unse-ren Familienkonflikten neue, gereifte und vertiefte Beziehungen erwachsen werden.

Ich selber durfte das erfahren, und mir scheint, bei Jesus und seiner Familie war es nicht anders.

Beim ersten Pfingstfest in Jerusalem sehen wir zu unserer Überraschung und zu un-serer Freude die Familie Jesu mittendrin. Jetzt stehen die Mutter und die Geschwis-ter nicht mehr wie Ausgestoßene vor der Tür. Sondern sie haben sich vermischt mit einer größeren Familie, sozusagen der Familie Gottes. Versöhnung ist also möglich. Und mit allen Kindern Gottes loben Maria und ihre Kinder, was Gott durch Jesus, dem Sohn und Bruder aus Nazareth für alle Menschen getan hat. Alle Kinder Gottes loben. Was für eine wunderbare große Familie!

Aber selbst bei der Familie Gottes, der Kirche, zeigt sich: ohne Konflikte geht es auch da nicht. Das war damals so, und so ist es heute noch immer. Aber wir können auch mit Konflikten leben. Gott gebe uns dazu seinen heiligen Geist.

Musik J.S. Bach, Triosonate Nr. 1 Es-Dur, BWV 525, 3. Satz: Allegro

 

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